Paranza: Der Clan der Kinder
Angelockt von dem Versprechen von Macht und Geld gerät ein Jugendlicher in diesem bitteren Sozialdrama in die Kreise der Mafia.
Das Jugenddrama des Regisseurs und Musikers Claudio Giovannesi arbeitet mit typischen Versatzstücken des Mafiafilms wie Revierkämpfen, Bandenrivalitäten, Macho-Allüren, Machtgier, Waffenfetischismus und Prahlerei mit Prestigesymbolen, erzählt den Aufstieg und Fall einer Bande der organisierten Kriminalität in Neapel aber am Beispiel von Jugendlichen. Dank der jungen Laiendarsteller*innen und der naturalistischen Erzählweise, die auf eine vordergründige Bewertung des Geschehens verzichtet, gewinnt „Paranza“ eine hohe Authentizität und hebt sich klar von der Masse der Mafiafilme ab.
Im Zentrum der Narration steht der 15-jährige Nicola, der nicht zur Schule geht, aber auch keine Arbeit hat. In der Altstadt von Neapel, deren Viertel von konkurrierenden Mafia-Clans kontrolliert werden, gibt es für ihn und die Jungs seiner Clique keine Aussicht auf reguläre Jobs, zu groß ist die Arbeitslosigkeit. Und das schnelle Geld lockt überall und ständig: Wer für die Camorra arbeitet, kann sich teure Markenklamotten, neue Motorroller und den Kauf eines Tisches in der angesagten örtlichen Luxus-Disco leisten. So erliegen auch der gutaussehende Nicola und seine fünf Kameraden der Faszination der Macht und der organisierten Kriminalität.
Als gleich mehrere Mafia-Bosse der Camorra umgebracht oder festgenommen werden, ergreift Nicola die Gelegenheit des Machtvakuums, verbündet sich mit den Söhnen eines ermordeten Clanführers, besorgt sich von einem unter Hausarrest stehenden Clanchef in einem anderen Viertel automatische Schusswaffen und übernimmt mit seinen furchtlosen Jungs den Drogenhandel im Viertel Sanità. Zudem kassiert seine minderjährige Gang die üblichen Schutzgelder. Mit den üppigen Einnahmen kann der frühreife Bursche seiner Mutter schicke neue Möbel kaufen und darf dafür ins größere Zimmer umziehen.
Um seine Macht zu festigen, begeht Nicola einen heimtückischen Mord am letzten verbliebenen Mafiaführer seines Viertels. Kompliziert wird es, als er wegen eines neuen Konflikts mit einer anderen Mafiabande nicht mehr das Viertel betreten darf, in dem seine Freundin Letizia wohnt. Und dann wird auch noch Nicolas junger Bruder Cristian hinterrücks angeschossen, nachdem er mit Freunden die Waffen der Gang ausprobiert hat. Nicola will Rache.
Das Drehbuch zu „Paranza“ – ein Begriff, der Fischerboot oder Schleppnetz bedeuten sowieauf eine Kleingruppierung der Mafia verweisen kann – beruht auf dem Roman „La paranza dei bambini“ („Der Clan der Kinder“), den der von der Mafia gesuchte und seit einigen Jahren unter Polizeischutz lebende italienische Journalist und Schriftsteller Roberto Saviano („Gomorrha. Reise in das Reich der Camorra“) 2016 veröffentlicht hat. Verfilmt wurde das bittere Sozialdrama nun unter der Regie von Claudio Giovannesi („Fiore“) mit jungen Laiendarsteller*innen, die aus rund 4000 Kandidaten ausgewählt wurden. Die Jugendlichen tragen denn auch den Film, der kenntnisreich die Perspektivlosigkeit der jungen Generation und die tragische Spirale von Armut und Kriminalität aufzeigt. Vor allem der smarte Francesco Di Napoli überzeugt als eiskalter Engel, der kopflos Reichtum und Ruhm nachjagt, sich zugleich liebevoll um seinen jüngeren Bruder kümmert, aber auch als junge Frau verkleidet in das Haus eines Mafiaführers eindringt und diesen niederschießt.
An die kraftvolle Bildsprache des ungleich gewalttätigeren Mafiafilms „Gomorrha“ von Matteo Garrone, der ebenfalls auf einem Buch von Saviano beruht und 2008 für Aufsehen sorgte, reicht der dritte Langfilm Giovannesis nicht heran. Zu vorhersehbar werden die Stationen abgehandelt, die Nicolas Gang auf der schiefen Bahn ins Verderben absolviert, zu oberflächlich bleibt die Darstellung von Armut, Machismo, Materialismus und Konsumrausch. Am Automatismus der Abwärtsspirale, die auch wechselnde Banden-Allianzen nicht aufhalten, ändern auch szenische Miniaturen wenig, in denen so etwas wie Nor malität aufblitzt, wenn sich Nicola etwa mit seinem Bruder am Frühstückstisch über Kekse streitet oder wenn er bei einem Ausflug mit Letizia ans Meer von einem unbeschwerten freien Leben träumt.
Außerdem erfahren wir zu wenig über die Motive und inneren Konflikte Nicolas und seiner Spießgesellen. Und warum wehren sich Letizia und Nicolas Mutter kein einziges Mal gegen dessen lebensgefährliche Mafia-Ambitionen? So bleibt das Porträt einer Gruppe von Heranwachsenden, die ihre moralische Unschuld verliert und anscheinend unaufhaltsam verroht. Paradigmatisch für die Naivität, in der die Jugendlichen in die Spirale der Gewalt hineinstolpern, ist eine Szene, in der sie sich erst Videos auf YouTube anschauen müssen, um zu erfahren, wie man eine Maschinenpistole bedient.
Brisant wird die düstere Chronik, wenn sie vor allem in der starken Schlussphase zeigt, wie immer jüngere Kinder in den Teufelskreis geraten. Die packende Inszenierung kulminiert in einem düsteren Finale, das keine Hoffnung auf einen Ausweg lässt: Da versammeln sich gut ein Dutzend junge Kriminelle zu einem imposanten Aufmarsch auf Motorrollern, die mit Nicola zu einem Rachefeldzug aufbrechen.
Reinhard Kleber
La paranza dei bambini - Italien 2019, Regie: Claudio Giovannesi, Kinostart: 22.08.2019, FSK: ab 16, Empfehlung: ab 16 Jahren, Laufzeit: 112 Min. Buch: Maurizio Braucci, Claudio Giovannesi, Roberto Saviano, nach dem Roman „La Paranza dei Bambini“ von Roberto Saviano. Kamera: Daniele Cipri. Musik: Andrea Moscianese, Claudio Giovannesi. Schnitt: Giuseppe Trepiccione. Produktion: Carlo Degli Esposti, Nicola Serra. Verleih: Prokino. Darsteller*innen: Francesco Di Napoli (Nicola), Ar Tem (Tyson), Alfredo Turitto (Biscottino), Viviana Aprea (Letizia), Valentina Vannino (Nicolas Mutter) u. a.
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