Rocca verändert die Welt
Eine moderne Pippi Langstrumpf wird in Hamburg mit den Widrigkeiten des Lebens konfrontiert – und macht, was der Titel verspricht.
Die Welt verändern – das ist eine große Vision, die der Hauptfigur scheinbar Unerreichbares abverlangt. Mit elf Jahren ist Rocca gerade frisch vom Europäischen Weltraumzentrumnach Hamburg gekommen, um hier solange bei ihrer Großmutter Dodo zu leben, bis Papa von seiner ISS-Mission zurück ist. Die Oma aber, sehr unkonventionell interpretiert von Barbara Sukowa, gibt Rocca immer noch die Schuld am Tod ihrer Tochter, die bei Roccas Geburt starb. Keine idealen Voraussetzungen also für eine heimelige Oma-Enkelin-WG. Rocca muss ohne Dodo zurechtkommen und geht an ihrem ersten Schultag allein zum Gymnasium, um dort gleich einmal für Wirbel zu sorgen. Weil sie noch nie eine deutsche Lehranstalt von innen gesehen hat, versteht sie deren Regeln nicht und duzt ahnungslos Lehrerin und Direktor.
Es ist nicht zu übersehen, dass Roccas Geschichte als modernes Märchen angelegt ist und auch nur als solches funktioniert. Wir haben es hier mit einer aktualisierten Pippi Langstrumpf zu tun, die mit viel Chuzpe ihr Leben meistert, mutterlos, mit Papa als Astronaut, der auf seiner Erdumlaufbahn über Rocca hinweg schwebt. In Omas Nachbarhaus wohnen in Anlehnung an Tommi und Annika die Geschwister Lila und John, die fasziniert sind von Roccas Mut mit ihrer Gabe, nicht nur alles in Frage zu stellen, sondern auch die richtigen Erklärungen für komplizierte Dinge zu finden.
Seinen Anfang nimmt „Rocca verändert die Welt“ mit einer Eröffnungssequenz, die für einen Kinderfilm wirklich ungewöhnlich ist: Rocca sitzt im Cockpit des Airbus, mit dem sie nach Hamburg fliegt, und bringt ihn sicher am Boden zur Landung – weil nach einer Fischvergiftung alle Crewmitglieder ausgefallen sind. Auch wenn Rocca bisher nicht die üblichen Schulthemen gelernt hat, kennt sie sich mit der Luftfahrttechnik bestens aus und kann selbst ein Großraumflugzeug ganz unaufgeregt steuern. Dieses Wissen hat sie in ihrem bisherigen Leben auf der Weltraumstation praktisch mit der Milch aufgesogen. Anstatt sich jedoch von der Presse für die Rettung der Fluggäste bejubeln zu lassen, verschwindet sie unauffällig, um gleich in der nächsten Sequenz ein verletztes Eichhörnchen zu retten und provoziert dabei beinahe versehentlich noch einen Unfall. In rasantem Tempo geht der Film weiter, in dem Rocca Stellung bezieht zu Themen wie Obdachlosigkeit, Mobbing oder Social Media. Instagram und Snapchat beispielsweise sind ist ihr vollkommen fremd, hatte sie doch bisher wohl eher mit Erwachsenen zu tun, wodurch sie vor dem Hype um Postings und Likes verschont blieb.
Der schnelle Rhythmus des Films lässt sowohl Rocca als auch die Zuschauer*innen kaum zu Atem kommen. Wenn man versucht, die Story zusammenzufassen, klingt das nach einem ziemlichen Overkill für eine Elfjährige. Aber genau das ist die Strategie der Regisseurin Katja Benrath, die Rocca als neugierige Heldin in komplizierte Lebenssituationen hineinrasseln lässt. Warum sammelt Caspar Flaschen, anstatt seinem Beruf nachzugehen? Wieso mobben die angesagten Mädchen der Klasse die schüchterne Zoë? Weshalb darf Rocca mit dem Eichhörnchen nicht sofort zum Tierarzt gehen, nur weil gerade Schule ist? Die Mitschüler*innen jedenfalls finden die Neue in der Klasse aufregend, weil sie wohl noch nie ein Mädchen kennengelernt haben, das sich vor nichts zu fürchten scheint. Lila und John folgen Rocca gespannt zum Fluss, um dort ein Floß zu bauen, mit dem sie im Lauf des Nachmittags erwartungsgemäß kentern werden.
Die Handlung ist so größenwahnsinnig, wie sie klingt, aber mit einem so guten Timing inszeniert, dass man ihr die eine oder andere Übertreibung gerne verzeiht. Rocca bringt nicht nur den Obdachlosen Caspar wieder ins Leben zurück, sondern schafft auch neue Umgangsformen an der Schule und integriert Zoë in die Klasse. Über weite Strecken sowohl lustig als auch überraschend, gelingt es dem Film, Mut zu machen – so wie im realen Leben die Schüler*innen der 16-jährigen Aktivistin Greta Thunberg zu den Freitagsdemos für den Umweltschutz folgen.
Die Schauspieler*innen führen mit Begeisterung vor, dass ein Wandel tatsächlich möglich ist, allen voran Luna Marie Maxeiner als Rocca, die mal cool, mal nachdenklich und oft sehr forsch auf dem Skateboard durch Hamburg fährt und sich Herausforderungen unbeirrt entgegenstellt. Gleich zu Beginn hat Detlev Buck einen Cameo-Auftritt als ödipal gesteuerter Taxifahrer. Oma ist ständig umgeben von ihren trinkfreudigen, Karten spielenden und lamentierenden Freundinnen, gespielt von Hedi Kriegeskotte und Karin Heine, und der Obdachlose Caspar wird klischeefrei dargestellt von Fahri Yardim. Das Happy End ist nicht ganz so übertrieben, wie der Drive der Geschichte es vermuten ließe. Überraschend ist, dass der Film auf einem Originaldrehbuch von Hilly Martinek basiert, die zuvor etwa das Buch zu „Honig im Kopf“ (2014) von Til Schweiger verfasst hat. Originalstoffe haben es im Kindersegment normalerweise schwer, aber ein großer Verleih wie Warner wird dem Film erfreulicherweise die nötige Aufmerksamkeit verschaffen. Pippi Langstrumpf jedenfalls hätte sich über die hanseatische Nachfolgerin Ria Ottilie Clementine Cäsar Alba – kurz Rocca – gefreut.
Katrin Hoffmann
Rocca verändert die Welt - Deutschland 2019, Regie: Katja Benrath, Kinostart: 14.03.2019, FSK: ab 0, Empfehlung: ab 8 Jahren, Laufzeit: 97 Min., Buch: Hilly Martinek, Kamera: Torsten Breuer, Schnitt: an Ruschke, Musik: Annette Focks, Produktion: Tobias Rosen, Verleih: Warner, Besetzung: Luna Marie Maxeiner (Rocca),Barbara Sukowa (Oma Dodo), Fahri Yardim (Obdachloser Caspar), Mina Tander (Lehrerin) Caspar Fischer-Ortman (Max) u. a.
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