Die kleinen Hexenjäger
Die neue Freundin des Vaters muss eine Hexe sein. Und Hexen muss man vernichten.
Seit seiner Geburt ist der zehnjährige Jovan gehbehindert. Partielle Zerebralparese sagt man dazu in der medizinischen Fachsprache – und nicht nur für Jovan klingt das reichlich abstrakt. Viel mehr belastet es ihn, dass er in seiner Klasse allenfalls geduldet und von vielen Dingen ausgeschlossen ist, die für die anderen selbstverständlich sind. Daher flüchtet er sich gerne in seine Träume, in denen er es als Superheld Shade mit jedem Bösewicht mühelos aufnimmt. Als Milica in seine Klasse kommt und ihren Platz ausgerechnet neben Jovan einnehmen soll, der bisher immer alleine auf der Schulbank saß, ist Jovan stinksauer. Aber zugleich bewundert er das resolute Mädchen, das offenbar vor nichts und niemandem Angst hat, und nimmt erstaunt zur Kenntnis, dass beide einiges gemeinsam haben, jedenfalls was ihre Rollen als Außenseiter*innen angeht.
Wie Jovan fühlt sich auch Milica ziemlich allein gelassen. Bei ihr allerdings ist daran der geliebte Vater schuld, der die Familie für eine andere Frau verlassen hat. Dafür gibt es nur eine Erklärung, die auch von der Oma unterstützt wird: Diese Frau muss eine Hexe sein, die den Vater mit einem Zaubertrank so willensschwach gemacht hat, dass er nicht mehr aus freien Stücken handeln konnte. Die Lösung des Problems kann daher nur lauten, die böse Hexe zu vernichten, am besten mit einer spitzen Nadel, die ihr direkt in den Nacken gestoßen wird. Da Jovan sich zum ersten Mal trotz seiner Behinderung voll akzeptiert fühlt, ist er allzu gerne bereit, Milica bei ihrem Plan zu unterstützen. Die Sache hat nur einen Haken: Jovan kann keine Treppenstufen alleine hochgehen. Aber das ist erforderlich, um Milica vor Ort helfen zu können, die Hexe zu vernichten.
Spätestens seit den Gebrüdern Grimm wissen wir, dass böse Hexen allenfalls in den Ofen gestoßen werden, spitze Nadeln oder Dolche dagegen eher etwas für Shakespeare’sche Dramen sind. Gleichwohl lässt der wirklich außergewöhnliche Debütspielfilm von Raško Miljković lange Zeit im Dunkeln, ob sich sein überaus netter Gruselfilm, der gängige Motive des Märchenfilms aufgreift und zugleich fest in der heutigen sozialen Realität verankert ist, am Ende vielleicht doch noch zum Horrorfilm entwickeln könnte. Das erhöht zweifelsfrei die Spannung, wird aber an keiner Stelle auch nur annähernd zum Jugendschutzproblem. Denn dem Regisseur ist trotz kleiner dramaturgischer und logischer Unzulänglichkeiten etwas sehr Seltenes gelungen, indem er zwei scheinbar völlig disparate Themen mühelos miteinander verbindet und in Einklang bringt.
Einerseits geht es um Behinderung und Inklusion, andererseits um die Probleme eines Scheidungskindes, das nicht verstehen kann, warum der Vater die Familie verlassen hat. Beides sind gängige Topoi des europäischen Kinderfilms, aber noch nie wurden diese Topoi stimmig miteinander verbunden, sehr realitätsnah und vor allem glaubwürdig umgesetzt. Natürlich hebt es die Stimmung, wenn ein Junge mit einer Behinderung plötzlich seine körperlichen Schranken überwindet und etwas leistet, was niemand für möglich gehalten hätte. Die Paralympics sind ein wunderbares Beispiel dafür. Und selbstverständlich rührt es das Herz, wenn zwei zerstrittene Elternteile nicht zuletzt aus Liebe zu ihrem Kind wieder zueinander finden. Dass es auch im Kinderfilm ganz anders laufen kann und die Kraft spendende Zuversicht dabei dennoch nicht auf der Strecke bleibt, zeigt dieser kleine, aber feine Film. Jovan muss sich damit abfinden, dass eine Heilung für ihn nahezu ausgeschlossen ist, und Milica macht die wichtige Erfahrung, dass man sich im Leben tatsächlich mehr als einmal „so richtig“ verlieben kann. Wow!
Holger Twele
Zlogonje / The Witch Hunters - Serbien, Mazedonien 2018, Regie: Raško Miljković, Festivalstart: 02.10.2018, Kinostart: 02.05.2019, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 9 Jahren, Laufzeit: 86 Min., Buch: Marko Manojlović, Miloš Krečković, Jasminka Petrović, nach einem Roman von Jasminka Petrović, Kamera: Mikša Anđelić, Schnitt: Đorđe Marković, Musik: Nevena Glušika, Produktion: Akcija pordukcija, Dream Factory Macedonia, This and That Productions, Verleih: Der Filmverleih, Besetzung: Mihajlo Milavić (Jovan), Silma Mahmuti (Milica), Jelena Dokić (Isidora), Bojan Žirović (Filip), Dubravka Kovjanić (Tanja) u. a.
Altersempfehlung 6-9 Jahre
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