Kannawoniwasein!
Wenn die Eltern schon keine Zeit haben, dann können Finn und Jola ja auch ans Meer fahren: Zwei Kinder allein on the road.
Ans Meer? Babyeinfach. Immer nur nach Norden. Wenn Jola das so sagt, dann klingt das wirklich wie ein Kinderspiel. Tatsächlich aber ist es noch eine ganz schön weite Reise quer durch Brandenburg und durch Mecklenburg-Vorpommern, die der zehnjährige Finn und die etwas ältere Jola dafür zurücklegen müssen. Ganz allein. Denn beide sind Ausreißer.
Finn ist eher zufällig zum Ausreißer geworden. Eigentlich sollte er das Wochenende bei seiner Mutter und deren Freundin verbringen, weil sein Vater kurzfristig einen großen Auftrag bekommen und deshalb keine Zeit für ihn hat. Aber die Fahrt mit dem Zug zur Mutter ist furchtbar schief gelaufen. Erst wurde Finn von einem Möchtegernrocker sein Rucksack mitsamt Handy und Fahrkarte gklaut, dann wurde er von zwei Polizist*innen in Gewahrsam genommen. Bei einem Unfall mit dem Polizeiwagen hat er schließlich Jola getroffen, die keine Lust hatte, schon wieder mit ihrem Onkel nach Polen zu fahren, und mit ihr kurzerhand das Weite gesucht.
Erst versucht Finn noch, seine Mutter zu erreichen. Aber als ihm klar wird, dass die ihn eh vergessen hat und nicht wie versprochen am Bahnhof abgeholt hätte, ist plötzlich alles möglich. Wenn die Eltern sich nicht um ihn kümmern, dann kann er machen, was er will. Also auch mit Jola ans Meer fahren. In einem verlassenen Bauernhof finden die beiden einen alten Trecker, bringen ihn zum Laufen – und los geht das Abenteuer. Über Straßen und Felder, in Gräben und wieder heraus.
„Kannawoniwasein!“ konzentriert sich voll und ganz auf die beiden Kinder und stellt ihnen auch keine anderen Gleichaltrigen gegenüber. Finn und Jola befinden sich in diesem Film ganz allein in einer Welt der Erwachsenen, von denen die meisten tatsächlich ziemlich seltsam sind. Ein skurriles Figurenensemble, das nur bedingt Kinderfilmklischees entspricht, arrangiert der Film um die beiden Kinder, von einem ziemlich verpeilten Polizist*innen-Duo über eine kuriose Imbissverkäuferin – das Bild von deren Anhänger mitten im Nirgendwo ist allerdings viel komischer als die Besitzerin – und zwei pragmatische Nudist*innen bis zu einer Trans-Frau in einem Provinz-Sex-Shop sowie einer Rockerbande. Dabei wird immer der vorurteilsfreie Blick der Kinder betont: Das Verhalten von Erwachsenen muss man nicht immer verstehen.
In gewisser Weise lässt sich „Kannawoniwasein!“, inszeniert von Stefan Westerwelle, der zuvor mit „Into the Beat“ (2020) und „Matti und Sami und die drei größten Fehler des Universums“ (2018) schon zwei Kinofilme für Kinder und Jugendliche gedreht hat, auch als Kinder-Pendant zu „Tschick“ (Fatih Akin, 2016) sehen. Wie in diesem sind zwei junge Menschen ganz allein unterwegs, statt Kühen begegnen sie hier einem Wolf, der Dichtegrad merkwürdiger Gestalten ist ähnlich hoch, als Spielraum dient die Provinz im Osten Deutschlands, nur das Ziel ist hier nicht die Walachei, sondern die Ostsee. Auch ein ähnlich ernstes Gespräch unterm Sternenhimmel gibt es, in dem der Film zu einem ganz anderen Tonfall findet. Die Aufregung, die überdrehte Komik, der Bildwitz tritt zurück für die leisen Töne. In diesem Augenblick finden Finn und Jola zueinander und sprechen aus, was sie zuvor für sich behalten und überspielt haben.
Die Parallelen zu „Tschick“ außer Acht gelassen, funktioniert diese Form der Geschichte aber auch genauso gut für Kinder, weil sie davon erzählt, wie Kinder sich von Verletzungen befreien und selbstbestimmt ihr Leben in die Hand nehmen. Sie machen sich unabhängig von ihren Eltern, die sie enttäuscht haben, und erleben ein großes Abenteuer. Es sind aberwitzige, schöne Bilder, wenn die Kinder mit dem Traktor über die Felder (aber nicht durch ein Maisfeld, pardon) fahren und gewitzt einen Weg finden, sich gegenüber Erwachsenen zu behaupten, die sich (mal wieder) überlegen fühlen.
Aus den vertrauten vier Wänden führt der Film Finn und Jola hinaus ins Unbekannte, in die Natur, in die Freiheit, in Neuland, in die Wildnis, wo auch einmal gefährliche Tiere herumschleichen, die vielleicht gar nicht gefährlich sind. Das ist es, was Westerwelles Film insgesamt auszeichnet. Dass er Kinder zu Orten führt, die sie normalerweise noch nicht kennen. Und dass er ihnen dann, wenn es drauf ankommt, trotzdem den notwendigen Rückhalt und das Bewusstsein gibt, nicht allein zu sein.
Stefan Stiletto
Kannawoniwasein! - Deutschland 2023, Regie: Stefan Westerwelle, Kinostart: 17.08.2023, FSK: ab 6, Empfehlung: ab 9 Jahren, Laufzeit: 94 Min. Buch: Klaus Döring, Adrian Bickenbach, Stefan Westerwelle, nach dem gleichnamigen Roman von Martin Muser. Kamera: Martin Schlecht. Musik: Stefan Maria Schneider. Schnitt: Michael Münch. Produzenten: Klaus Döring, Philipp Budweg. Produktion: Lieblingsfilm, Sad Origami. Verleih: Weltkino. Darsteller*innen: Miran Selcuk (Finn), Lotte Engels (Jola), Sarina Radomski (Svenja), Leslie Malton (Hackmack), Felix von Manteuffel (Opa Heinz) u. a.
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