Suzume
Im Kino: Ein gigantischer Wurm droht sich seinen Weg in die Welt zu bahnen. Eine Schülerin reist durch Japan, um ihn aufzuhalten.
Weiches Licht liegt über den Landschaften dieses Animes – und schon mit den ersten Bildern ist klar, in wessen Welt wir uns da befinden. Die fotorealistischen Darstellungen mit unzähligen feinen Spiegelungen, Lichtreflexen und Lichtbündeln, die durch Wolken scheinen, waren von Anfang an das Markenzeichen von Makoto Shinkai, der seinen ersten Film „Voices of a Distant Star“ 2002 noch quasi im Alleingang inszeniert hat. Eine perfektes Zusammenspiel mit Shinkais Lieblingsthema der Sehnsucht, das sich durch Lichtstimmungen in den Bildern immer wieder eindrucksvoll spiegelt. Hat Shinkai anfangs meist eher unaufgeregt von großen Gefühlen erzählt – „5 Centimeters per Second“ (2007) und „The Garden of Words“ (2013) sind Slice-of-Life-Schmachtfetzen erster Güte –, so sind seine Filme in den letzten Jahren zunehmend bombastischer geraten. Neben Liebesgeschichten geht es in „Your Name“ (2016) und „Weathering With You“ (2019) um Katastrophen. Und um eine Katastrophe geht es nun auch in „Suzume“. Wobei die Titelheldin an dieser nicht ganz unschuldig ist.
Nachdem Suzume eine merkwürdige Tür in einem alten verfallenen Badehaus geöffnet und in eine andere Welt geblickt hat, die sie allerdings nicht betreten konnte, versetzt sie versehentlich eine Katzen-Steinstatue, die sogleich zum Leben erwacht und das Weite sucht. Suzume ahnt nicht, dass diese Statue ein Schutzstein war. Ohne diesen kann sich nun ein riesiger roter Wurm, den nur Suzume sehen kann, durch die Tür seinen Weg in die Welt der Menschen bahnen. Erschrocken kehrt Suzume noch einmal in die alte Badeanlage zurück und trifft dort auf Souta, der sich mit aller Kraft gegen die offene Tür lehnt und versucht, den Wurm zu stoppen. Gemeinsam gelingt es Suzume und Souta, das merkwürdige Portal zu schließen – jedoch erst, nachdem der Wurm ein Erdbeben ausgelöst hat. Souta stellt sich als „Schließer“ vor, der durch Japan reist, um die Tore zu der anderen Welt zu überprüfen, die sich meist an verlassenen Orten befinden. Als er kurz darauf von der Katze in einen dreibeinigen Stuhl verwandelt wird, benötigt er jedoch Suzumes Hilfe. Denn offenbar hat die Katze vor, nach und nach die Tore in allen Regionen Japans zu öffnen.
Eine 16-jährige Schülerin und ein dreibeiniger Stuhl als Held*innen eines Buddy Road-Movies, dazu eine niedliche weiße (und unglaublich mächtige) Katze als Gegenspielerin – das gibt es wirklich selten und ist zunächst an Skurrilität kaum zu überbieten. Und doch gelingt es Shinkai, daraus eine stimmige Geschichte zu machen, weil er seine Figuren sehr ernst nimmt und der Souta-Stuhl trotz manch aberwitziger Szenen nicht vergleichbar ist mit einem singenden Disney-Sidekick.
Vor allem aber ist „Suzume“ nicht nur eine große Weltuntergangsfantasie, sondern auch die Geschichte der jugendlichen Heldin. So taucht er immer mehr ein in die Vergangenheit von Suzume, die ihre Mutter als Kind beim schweren Erdbeben im Jahr 2011 verloren hat und seither bei ihrer Tante Tamaki lebt. In schönen Szenen beleuchtet er die Beziehung zwischen Suzume und Tamaki, die zwar liebevoll miteinander umgehen, aber nie ausgesprochen haben, wie sie sich fühlen und was sie belastet. Nach Freiheit sehnen sich beide – auf ganz andere Art. Immer wieder blickt der Film so in die Tiefe und wird zu mehr als nur einem Spektakel.
In bester Anime-Tradition ist der Film letztlich beides: eine Erzählung in atemberaubend schönen Bildern, irgendwie in der Realität verwurzelt, aber irgendwie auch wieder in einer fantasievollen Welt, manchmal still und bedächtig, manchmal laut und überwältigend. Wie in Mamoru Hosodas jüngstem Film „Belle“ geht es auch hier um die Überwindung eines schweren Verlusts – wieder ist es die abwesende Mutter, die die Heldin aus der Bahn geworfen hat –, wie in den Filmen von Hayao Miyazaki aber auch um einen Blick auf die Umwelt als lebendigen, von Göttern bewohnten Organismus, den die Menschen nicht kontrollieren, aber achten können. An die Stelle des Atombombentraumas in Animes wie „Akira“ (Katsuhiro Otomo, 1988) oder „Die letzten Glühwürmchen“ (Isao Takahata, 1988) ist nun offenbar die Auseinandersetzung mit der jüngeren Geschichte Japans getreten, die ähnlich tiefe Wunden hinterlassen hat. Weil Suzume sich ihrem Trauma stellt und nicht länger die Augen davor verschließt, gelingt es ihr letztlich, in jeder Hinsicht stärker zu werden. Für die Aussöhnung mit den eigenen Ängsten findet Shinkai ein paar sehr starke Bilder. Und auch eine Liebesgeschichte ist „Suzume“ nicht zuletzt.
Stefan Stiletto
Suzume no tojimari - Japan 2022, Regie: Makoto Shinkai, Kinostart: 13.04.2023, FSK: ab 12, Empfehlung: ab 14 Jahren, Laufzeit: 122 Min. Buch: Makoto Shinkai. Musik: Kazuma Jinnouchi, Radwimps. Schnitt: Shigeru Nishiyama. Produzenten: Genki Kawamura, Kōichirō Itō. Produktion: Story Inc., CoMix Wave. Verleih: Crunchyroll/Wild Bunch
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