Märzengrund
Im Kino: Ein Film über eine stille, radikale Verweigerung, der berührt und in unglaublich schöne Landschaften entführt.
Schicksale am Rande unserer Gesellschaft scheinen den österreichischen Filmemacher Adrian Goiginger anzuziehen. Bereits in seinem mehrfach ausgezeichneten Langspieldebüt „Die beste aller Welten“ (2017) beschreibt er das unglaublich schwierige Ringen einer jungen Mutter, von ihrer Drogensucht loszukommen und endlich für ihren Sohn sorgen zu können. Seine neue Arbeit bezieht sich nun auf eine Lebensgeschichte, in der ein Mensch eine ähnlich tiefe Krise durchschreiten musste.
2019 gab ihm Produzent Michael Cencig das Theaterstück „Märzengrund“ von Felix Mitterer zu lesen. Adrian Goiginger sagte sofort zu, an dem geplanten Filmprojekt mitzuarbeiten, denn: „Die wahre Geschichte von Elias, sein Streben nach Glück und sein von der Gesellschaft losgelöstes Leben haben mich zutiefst berührt. Ich habe eine tiefere, innere Verbundenheit zu diesem Elias gespürt und mich selbst in ihm gesehen.“
Der Film beginnt im Jahr 1968 im Zillertal in Tirol: Elias ist 18 Jahre alt. Dass er als einziger Sohn eines reichen Großbauern den elterlichen Hof übernehmen wird, steht bereits seit seiner Geburt fest. Schon jetzt will ihn der Vater auf diese verantwortungsvolle Aufgabe vorbereiten und dafür stark machen. So muss Elias zusehen, wie sein Vater einen verschuldeten Bauern zwingt, den Hof an ihn zu verkaufen. Und er darf nicht nett zu den Knechten sein, soll keine Bücher lesen, weil ihn „dieser Schund“ nur verweichlicht. Elias bemüht sich, den Erwartungen seines Vaters gerecht zu werden, doch es gelingt ihm nicht. Zunehmend fühlt er sich wie „ein Fremder in der Welt“. Dann lernt er die wesentlich ältere, bereits geschiedene Moid „mit den Gamsaugen“ kennen und verliebt sich in sie. Auch sie, die Bücher von Max Frisch liest, ist eine Außenseiterin. Von Anfang an verspüren die beiden eine tiefe Verbundenheit. Doch für die Eltern wie auch für die anderen Bäuer*innen ist diese Beziehung ein Skandal. Elias wird jeglicher Kontakt verboten, Moid verlässt das Dorf. Daraufhin fällt Elias in eine schwere seelische Krise. Der Hausarzt will ihn in die „Heilanstalt“ nach Innsbruck überweisen, doch der Vater meint, dass seinem Sohn nur Arbeit helfen kann. Er schickt Elias mitten im Winter auf die Hochalm Märzengrund, damit er dort alles für den Viehtrieb im Frühjahr vorbereiten kann. Doch dann verbringt Elias auch den Sommer in der einsamen Natur, allein mit den Kühen. Und als diese im Herbst ins Tal getrieben werden, weigert sich der Großbauernsohn, mitzukommen. Eine Rückkehr in die alten engen Strukturen, in denen hauptsächlich materieller Reichtum zählt, ist für ihn ein Ding der Unmöglichkeit. Er zieht weiter hinauf in die Berge und führt 40 Jahre lang das Leben eines Einsiedlers.
„Märzengrund“ beruht auf einer wahren Geschichte. Elias heißt in Wirklichkeit Simon Koch und ist 2008 gestorben. Ihm widmet Adrian Goiginger seinen Film, der – trotz des zeitlichen Abstands – den Nerv unserer Zeit trifft. Denn immer mehr Menschen sehnen sich in unserer hektischen digitalisierten Welt nach einem entschleunigten ländlichen Leben oder zumindest nach einer Auszeit in der Natur. Nicht umsonst boomen Landlust- und Achtsamkeits-Zeitschriften, werden verstärkt naturnahe Aktiv-Urlaube gebucht oder kommen immer mehr Filme ins Kino, die unsere Sehnsucht nach Ruhe und einem Leben in Einklang mit einer intakten Natur stillen sollen. Adrian Goiginger spürt dieser Sehnsucht nach und bezaubert mit überwältigenden Landschafts- und Naturaufnahmen. Gleichwohl beschreibt er genau die Unwirtlichkeit der Natur, die Elias auch an den Rand des Ertragbaren bringt. So überrollt eine Schneelawine seine notdürftig erbaute Hütte und verletzt ihn schwer, oder es werden seine Anstrengungen gezeigt, Essbares zu finden. Da muss schon mal ein Leckstein für die Kühe herhalten, um eine Suppe zu kochen.
Zugleich aber erzählt Adrian Goiginger eine bewegende Geschichte von einem Außenseiter, der sich den engstirnigen Konventionen seiner Familie und der Dorfgemeinschaft nicht unterordnen kann und will. In welcher Welt will ich leben und nach welchen Werten? Diese Frage stellt sich Elias immer wieder. Doch er muss erst eine schwere Krise durchleben, bis er sich zu seinen Bedürfnissen bekennen kann und eine äußerst radikale Entscheidung trifft. Sie hat allerdings zur Folge, dass die Familie auseinanderfällt und seine Schwester ihre Lebenspläne aufgeben muss. Denn auch sie wollte aus dieser engen Welt fliehen, das Zillertal verlassen und Lehrerin werden. Sie hat schließlich geheiratet und mit ihrem Mann den Hof übernommen. Elias dagegen hat seinen Frieden gefunden, in der Einsamkeit hoch oben in den Bergen. Am Ende seines Lebens aber muss er feststellen, dass er nie einem Menschen geholfen hat, nie für einen Menschen ganz da war. Ja, und irgendwie auch nie da sein konnte.
Barbara Felsmann
Märzengrund - Österreich, Deutschland 2022, Regie: Adrian Goiginger, Kinostart: 25.08.2022, FSK: ab 12, Empfehlung: ab 14 Jahren, Laufzeit: 110 Min. Buch: Adrian Goiginger, nach dem gleichnamigen Theaterstück von Felix Mitterer. Kamera: Klemens Hufnagl. Musik: XXX. Schnitt: Birgit Foerster. Produktion: Metafilm, WHee Film. Verleih: Prokino. Darsteller*innen: Jakob Mader (Elias, jung), Johannes Krisch (Elias, alt), Verena Altenberger (Moid), Harald Windisch (Vater), Gerti Drassl (Mutter) u. a.
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