Girl Gang
Im Kino: Prämierte kritische Doku über eine junge Influencerin, ihre Familie und einen Fan.
Es klingt wie im Märchen. Da hat die 14-jährige Leonie aus Berlin als Influencerin mit ihren Posts bereits eine knappe Million Follower*innen und der Trend weist immer noch ungebremst nach oben. Das Geld klingelt in der Kasse, die Werbefirmen reißen sich um sie, die Eltern tun alles, um ihre Tochter zu managen. Sie wollen das große ökonomische Potenzial der Online-Aktivitäten ihrer Tochter ausschöpfen. Leonie selbst scheint offenbar das beste Leben zu haben, „das man sich vorstellen kann“. Allerdings beginnt und endet der schweizerische Dokumentarfilm von Susanne Regina Meures als Märchenerzählung mit dem bekannten Zitat „Es war einmal …“: Die Eltern haben ihrer Tochter einen kleinen schwarzen Spiegel geschenkt, der sich neudeutsch auch als Smartphone bezeichnen lässt. Wenn sie hineinschaute, konnten alle anderen Mädchen auf der Welt sie sehen und hören. „Kommt und folgt mir“, sagte das Mädchen. Eine dieser unzähligen Follower*innen ist die gleichaltrige Melanie an einem anderen Ort in Deutschland. Melanie fühlt sich einsam, sehnt sich nach wahren Freundschaften und wächst ohne den Vater bei der Mutter auf. Sie hat Leo(nie) zu ihrem großen Vorbild erkoren, zumal diese ein erstrebenswertes, perfektes Leben zu führen scheint. Von ihrem Idol ist sie begeistert und setzt alles daran, mit Leo über das Internet und auch im realen Leben in Kontakt zu treten. Dafür hat sie sogar eine eigene Fanseite aufgebaut.
Über einen Zeitraum von insgesamt vier Jahren begleitet die Dokumentarfilmerin diese beiden Mädchen mit der Kamera und bekommt tiefe Einblicke in ihren Alltag und in ihre Gefühlswelt, wobei das bei beiden nicht unterschiedlicher sein könnte. So gesehen handelt es sich um einen dokumentarischen Coming-of-Age-Film, wobei beide Hauptfiguren eine Entwicklung durchmachen und ein Stück erwachsener werden. Von der Ausgangslage und der figuralen Struktur von Influencerin und Folllowerin her lässt sich der Film ansatzweise mit „One in a Million“ von Joya Thome vergleichen, der als Langzeitstudie ebenfalls über vier Jahre hinweg entstand und 2022 erscheint. Damit erschöpfen sich aber fast schon die Gemeinsamkeiten. Denn der Blick von Susanne Regina Meures auf die Social Media, auf künstliche Scheinwelten und das Showbusiness ist von Anfang an weitaus kritischer und obendrein komplett anders gelagert als der von Joya Thome. Bei Meures geht es weniger um Selbstverwirklichung als um knallhartes Business. Folgerichtig endet das Märchen von „Girl Gang“ in der Rahmenhandlung mit einem Traum und einem Ort, in dem keine schwarzen Spiegel mehr nötig sein werden. Und auch Melanie, dies darf vorab verraten werden, hat am Ende im echten Leben endlich eine beste Freundin gefunden und schließt ihre Fanseite über Leonie.
Das, was Leonie und ihre Eltern in vier Jahren Drehzeit erlebt haben, mag exemplarisch sein – verallgemeinern auf alle Strukturen und Beziehungsformen im Bereich der Social Media lässt es sich freilich nicht. Gleichwohl möchten viele junge Menschen an diesen Formen virtueller Realität teilhaben. Diese üben eine große Faszinationskraft auf sie aus und nicht wenige von ihnen möchten selbst einmal Influencer*in werden und von den Produkten umgeben sein, die sie testen. Im Film wird eine Studie zitiert, dass fast die Hälfte aller Follower*innen einen engeren Bezug zu den Influencer*innen hat als zu den eigenen Freund*innen. Und 92 Prozent von ihnen kaufen auch die Produkte, die von diesen angepriesen werden. Nicht viel anders hat es wohl bei Leonie angefangen. Anfangs ist sie noch selbst überrascht über ihren Erfolg, sie findet es krass, wie die Leute sie mögen. Aber zugleich wächst der Druck, ständig liefern und noch mehr tun zu müssen, um weiterhin am Ball zu bleiben.
Wiederholt zeigt der Film, dass diese Tätigkeiten harte Arbeit sind, die den Tagesauflauf bald so stark bestimmen, dass Abstriche bei den sozialen Kontakten unvermeidlich sind und selbst die Schularbeiten darunter leiden. Auch ihr großer Fan Melanie bekommt zu spüren, dass Leonie fast unnahbar ist und eine Beziehung nicht einmal über das Internet funktioniert. Die Eltern tun alles zunächst damit ab, dass es ihrer Tochter an nichts fehle und sie Spaß an der Sache habe, die ihr Leben voll ausfüllt. Sie würden wirklich alles für sie und ihre Zukunft tun und entscheiden sich, Leonie zu managen und bestmöglich zu vermarkten, selbst wenn sie dafür ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse hinten anstellen müssen. Leonie soll es mal besser haben als sie selbst, sagen sie.
Das Geld beginnt zu sprudeln und doch will sich auf Dauer weder Glück noch Zufriedenheit einstellen. Leonies Mutter vergisst ihre eigenen Träume und hat plötzlich Zukunftsängste. Der Vater, der sowohl bei den Werbepartner*innen als auch beim Drehen den Ton angibt, fühlt sich zunächst noch frei und genießt den spannenden Alltag. Doch im Laufe der Zeit nehmen die Probleme überhand. Im Internet werden die Eltern plötzlich angeprangert, Leonie wird zur Zielscheibe von Hass und von einem Internet-Stalker gemobbt. Das Ganze hinterlässt bei ihr Spuren, obwohl sie weiterhin fest davon überzeugt ist, dass ihre Eltern nur das Beste für sie wollen. Aber sie verhält sich zunehmend zickiger gegenüber ihren Eltern, fühlt sich ständig genervt, widerspricht ihnen offen vor der Kamera. Das lässt sich als ein natürlicher Ablöseprozess von den Eltern begreifen – das Unbehagen in der Familie gleichermaßen wie beim Publikum allerdings bleibt. Gerade auch, weil der Film sich jeglichen offenen Kommentars und jeder Wertung enthält und die ausgewählten Bilder und Selbstaussagen der Beteiligten für sich selbst sprechen.
Holger Twele
Diese Kritik erschien anlässlich der Aufführung beim DOK.fest München 2022.
Girl Gang - Schweiz 2022, Regie: Susanne Regina Meures, Festivalstart: 07.05.2022, Kinostart: 20.10.2022, FSK: ab 6, Empfehlung: ab 12 Jahren, Laufzeit: 98 Min. Buch: Susanne Regina Meures. Kamera: Susanne Regina Meures. Schnitt: Katja Dringenberg. Produktion: Christian Frei Filmproduktion, SRF Schweizer Radio und Fernsehen. Verleih: Rise and Shine Cinema. Mitwirkende: Leonie und ihre Eltern, Melanie u. a.
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