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Alcarràs

Im Kino: Die mit dem Goldenen Bären prämierte Familiensaga erzählt auch aus der Sicht von Kindern und Jugendlichen.

In der Eröffnungsszene des Films ist die etwa elfjährige Iris am Steuer eines 2CV-Autowracks am Rande eines Teichs zusammen mit ihren beiden jüngeren Cousins Pere und Pau als Beifahrern zu sehen. Die drei Kinder tauchen ganz in ihre Fantasiewelt ein und es wirkt fast so, als würde die Kamera gar nicht präsent sein, denn nichts deutet darauf hin, dass diese Szene gestellt sein könnte. Kinderspiele in freier Natur und die verworrene Welt der Erwachsenen und der Familienmitglieder über drei Generationen hinweg aus kindlicher Perspektive zeichneten bereits den Debütspielfilm „Estìu 93“ (2016) der katalanischen Regisseurin Carla Simón aus. Dieser erhielt 2017 auf der Berlinale den Hauptpreis der Internationalen Jury von Kplus und kam unter dem deutschen Titel „Fridas Sommer“ ins Kino. In dem stark autobiografisch gefärbten Film ist Frida sechs Jahre alt und wächst nach dem Aids-Tod ihrer Eltern bei Onkel und Tante auf. Auch der zweite Langspielfilm trägt unverkennbar autobiografische Züge, denn in der Nähe der titelgebenden katalanischen Stadt Alcarràs bewirtschaftete Simóns Onkels eine Pfirsich-Plantage, auf der die Regisseurin regelmäßig zu Besuch war und ihre Sommerferien verbrachte. Aus Frida ist jetzt die einige Jahre ältere und sehr selbstbewusste Iris Solé geworden, die im Kreise ihrer filmischen Großfamilie, die seit Generationen eine Landwirtschaft betreibt, scheinbar unbeschwerte Sommerferien genießt.

Die sommerliche Idylle der ersten Szene erweist sich schnell als trügerisch. Jäh werden die Kinder aus dem Autowrack vertrieben und am nächsten Tag ist dieses von ihrem Abenteuerspielplatz verschwunden. Der Besitzer des Grundstücks möchte dort einen Park mit Solarpanels errichten, denn mit dem erzeugten Strom lässt sich weitaus mehr Geld verdienen als mit dem Anbau von Obst. Und schlimmer noch, es wird auch für die Familie Solé die letzte Ernte sein, die sie einfahren kann. Das Land gehört ihnen nicht. Sie durften es nur zum Dank dafür bewirtschaften, dass die Großeltern von Iris die Großgrundbesitzer*innen zur Zeit des Spanischen Bürgerkriegs versteckt hatten. Einen Vertrag darüber gab es nie und der Enkel der Familie Pinyol pocht nun auf sein Besitzrecht. Mit dieser existenziellen Bedrohung gehen die einzelnen Familienmitglieder der Solés sehr unterschiedlich um, wobei die jüngsten Familienmitglieder der Familie zu genauen und mitunter auch rebellischen Beobachter*innen des aufkeimenden Zwistes werden.

Der Großvater von Iris verstummt fassungslos. Er stammt noch aus einer Bauern-Generation, in der mündliche Vereinbarungen bindend waren. Mit den gesellschaftlichen Veränderungen, die durch Landkauf in großem Stil durch internationale Konzerne und Großplantagen auch andere Kleinbäuer*innen in den Ruin treiben, kommt Vater Quimet am wenigsten zurecht. Der Patriarch, der gleichwohl sehr um das Wohl seiner Familie besorgt ist, hängt den alten Zeiten nach und beschuldigt gar die anderen Familienmitglieder, ihm in den Rücken zu fallen, weil sie sich mit dem Landbesitzer zu arrangieren beginnen und wie etwa Schwager Cisco bereits im Solarpark arbeiten. Quimets ohnmächtige Wut entlädt sich in Überreaktionen, etwa wenn er mitten in der Nacht ein Solarpanel von der Scheune entfernt, das dringend für die eigene Stromerzeugung benötigt wird. Seine Strafaktionen treffen vor allem den heranwachsenden Sohn Rogelio, der plötzlich doppelt so viel arbeiten muss, denn für die Beschäftigung von Saisonarbeiter*innen fehlt das nötige Geld. Zum emotionalen Ausgleich baut Rogelio im Maisfeld heimlich Hanf an, um daraus Marihuana zu gewinnen, was den Konflikt zwischen Vater und Sohn weiter eskalieren lässt. Erst der Mutter wird es durch Ohrfeigen für ihren Mann und den Sohn gelingen, wieder etwas Ordnung in das familiäre Chaos zu bringen, unter dem längst auch Iris zu leiden hat. Ihr wird vorübergehend jeglicher Kontakt zu ihren beiden Cousins untersagt, weil deren Eltern gemeinsame Sache mit dem Landbesitzer machen.

In dieser familiären und gesellschaftlichen Krisensituation sind es daher grundsätzlich nicht etwa die immer noch in alten Strukturen und Traditionen gefangenen Männer, sondern die Frauen, also Iris, ihre Mutter und ihre Tanten, die sich nicht unterkriegen lassen, die Stärke und Selbstbewusstsein zeigen, die in der Lage sind, konstruktiv mit den Veränderungen umzugehen und nach neuen Perspektiven Ausschau halten. Denn eine bäuerliche Großfamilie wie die Solés, das macht der Film unmissverständlich klar, wird es bald nicht mehr geben.

Trotz aller Konflikte und dramatischen Wendungen gelingt es Carla Simón und ihrer Kamerafrau Daniela Cajías, mit lichtdurchfluteten Bildern in warmen Sommerfarben die Balance zu halten zwischen der Tragödie des Niedergangs einer Familie und eines ganzen Berufszweiges sowie unbeschwerten Momenten wie etwa dem Filmanfang, dem wiederholten Spiel der Kinder oder auch Szenen eines vergnüglichen Wochenendes mit Grillparty, Wein und Swimmingpool. Liebevoll und detailliert wird zugleich die tägliche Arbeit auf der Plantage dargestellt, die spüren lässt, wie wichtig den Landwirt*innen ihre Arbeit ist. Simón hat tausende von Bewohner*innen aus der Region gecastet und darauf geachtet, dass alle Rollen mit Laiendarsteller*innen besetzt wurden, die aus eigener Erfahrung ihre Rollen mit Leben erfüllen konnten. Einem jungen Publikum ab etwa 12 Jahren ist dieser mit dem Goldenen Bären preisgekrönte Film zu empfehlen, weil er zum Teil unmittelbar aus der Perspektive von Kindern und Jugendlichen eine Familiensaga in den Mittelpunkt stellt. Genauso interessant ist aber auch das zweite große Thema der tiefgreifenden Veränderungen in der Landwirtschaft vor dem Hintergrund der Globalisierung und des Klimawandels, die Jung und Alt gleichermaßen betreffen.

Holger Twele

Diese Kritik wurde anlässlich der Aufführung im Wettbewerb der Berlinale 2022 veröffentlicht.

© Piffl Medien/Lluis Tudela
12+
Spielfilm

Alcarràs - Spanien, Italien 2022, Regie: Carla Simón, Festivalstart: 15.02.2022, Kinostart: 11.08.2022, FSK: ab 6, Empfehlung: ab 12 Jahren, Laufzeit: 120 Min. Buch: Carla Simón, Arnau Vilaró. Kamera: Daniela Cajías. Musik: Andrea Koch. Schnitt: Ana Pfaff. Produktion: Avalon PC, Elastica Films, Vilaüt Films, Kino Produzioni. Verleih: offen. Darsteller*innen: Jordi Pujol Dolcet (Vater Quimet Solé), Anna Otín (Mutter Dolors Solé), Albert Bosch (Großvater Roger), Xènia Roset (ältere Tochter Mariona), Ainet Jounou (jüngere Tochter Iris), Josep Abad (Sohn Rogelio) u. a.

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