Die fabelhafte Reise der Marona
Im Kino: Ein herausragender Animationsfilm über ein Hundeleben voller Lebensweisheit.
Menschen, die schlafen, muss man gut bewachen, findet Marona. Sie ist eine sehr pflichtbewusste Hündin. Menschen werfen auch gerne Bälle, holen diese aber nur ungern zurück. Und manchmal verändert sich der Geruch von Menschen. Dann wittert der kleine Mischling das nahende Unglück schon von Weitem. So ist das auch bei Manole, dem biegsamen Akrobaten, der auf langen Beinen die Welt durchschreitet, sich in den Himmel schraubt und durch die Lüfte schwingt. Bei ihm findet Marona, die als Welpe ausgesetzt wurde, ihr erstes Zuhause. Arm ist Manole, aber zufrieden, erst recht als er in Marona eine treue Gefährtin findet. Aber letztendlich ist er wie alle anderen auch: Menschen wollen immer mehr und vor allem das, was sie nicht haben. „Sie nennen es träumen“, sagt Marona. „Ich nenne es: Nicht wissen, wie man glücklich ist.“
Die Welt, das Leben, die Menschen, gesehen mit den Augen einer Hündin, die eine herzförmige Nase hat – das kann einem beim Zuschauen viel zu denken geben. Die Titelheldin aus „Die fabelhafte Reise der Marona“ hält uns Zuschauer*innen – jungen wie alten – einen Spiegel vor und sie tut dies mit allergrößtem Mitgefühl, feinsinnigem Humor und mit einer Weisheit, die einem am Ende einer langen Lebensreise zu eigen sein mag. Denn damit fängt alles an: mit dem Unausweichlichem, mit dem Moment, „wenn du zum Nichts wirst“, mit Maronas Tod. Ein Auto hat sie angefahren. Nun liegt sie „als Fleck auf dem Asphalt“ und spult den Film ihres Lebens zurück. Das hört sich trostlos an, führt jedoch in eine bezaubernde und von Maronas warmer Stimme geleitete Geschichte, in der Freude und Liebe neben Trauer und Schmerz stehen.
Mit ihrer Entscheidung zur Animation öffnet die rumänische Regisseurin Anca Damian einen Raum, in dem alles möglich ist. Ihr Zeichentrickfilm ist ein fantasievoller Farbenbilderrausch, an dem man sich nicht satt sehen kann, und der sich jenseits bekannter Muster à la Disney oder Pixar bewegt. Die Welt, in die Marona als Welpe Nummer Neun geboren wird, ist aufregend, unbeständig, wunderschön und gemeingefährlich. Nicht nur für einen kleinen Hund, vor dessen Augen sich zuweilen Häuser auftürmen und Straßen bis zum Horizont hinziehen. Hier leben Kinder, Frauen, Männer, Tiere und eigensinnige Mischwesen mit Tierköpfen auf Menschenkörpern oder umgekehrt. Das alles erinnert an Kinderzeichnungen, aber auch an Dada, Surrealismus oder Expressionismus. Wer die Graphic Novels des belgischen Comic-Autoren Brecht Evens kennt, den die Regisseurin als Berater in ihr Team geholt hat, wird auch seine Handschrift im Film erkennen: Die Figuren fließen, die zarten Hintergründe sind immerzu in Bewegung, die Wasserfarben leuchten. Eine eigene Welt.
Mittendrin steht die kleine schwarz-weiße Hündin, die sich mit ihren klaren Konturen abhebt und allem eine Gewichtigkeit gibt. Wo ist der Ort, an dem sie sein darf? Wo die Aufgabe, die sie erfüllt? Wo der Mensch, der ihr Mensch ist? Sie wandert von einem zum anderen, manchmal freiwillig, manchmal auch nicht, denn Menschen geben Tiere einfach fort, wenn sie nicht mehr zum Lebensentwurf oder zur Handtasche passen. Nach dem Luftikus Manole, bei dem sie ihre Kindheit verbringt, trifft sie den Bauarbeiter Istvan. Er ist ein gutmütiger Riese mit blauem Gesicht und zärtlichen Händen. In seiner Welt herrscht Ordnung, ist alles Geometrie und Fläche. Aber auch bei ihm und seiner Vogel-Strauß-Frau kann Marona nicht bleiben. Wieder wird sie in eine neue Umgebung geworfen, muss sie sich an neuen Regeln stoßen. Sie wird Ana, dann Sara und schließlich von dem blauhaarigen Mädchen Solange, das viel zu schnell zum Teenager heranwächst, Marona gerufen. Bei Solange, ihrer überarbeiteten Mutter, dem grau-griesgrämigen Großvater und dem dominanten Kater wird sie Teil einer Familie, die kompliziert und zugleich ein Stück Heimat ist. Solange liegt am Ende neben Marona auf der Straße, als sie sterbend versucht, ihre Gedanken und ihr Leben einzusammeln, während der Autoverkehr um sie herumrauscht.
„Für mich hat Glück die Form der Zahl Neun und schmeckt nach Milch“, sagt Marona zu Beginn ihrer Geschichte. „Es ist eine große, warme, nasse Zunge, die meine Probleme wegwischt.“ Glück kann aber auch ein Film über eine Hündin sein, die einem zeigt, worauf es ankommt im Leben.
Kirsten Taylor
L’ Extraordinaire Voyage de Marona - Rumänien, Frankreich, Belgien 2019, Regie: Anca Damian, Kinostart: 30.09.2021, FSK: ab 0, Empfehlung: ab 9 Jahren, Laufzeit: 92 Min. Buch: Anghel Damian nach einer Idee von Anca Damian. Musik: Pablo Pico. Schnitt: Boubkar Benzabat. Produktion: Aparte Film, Minds Meet, Sacrebleu Productions. Verleih: Luftkind. Deutsche Stimmen: Lisa Mies (Marona), Finn Yascha Nolting (Manole), Klaus Meile (Istvan), Oona Diz Butzmühlen (Solange als Kind), Helena Klaus (Solange als Jugendliche) u. a.
Altersempfehlung 6-9 Jahre
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