Je suis Karl
Im Kino: Eine junge Frau lässt sich vom modernen Look der Neuen Rechten verführen.
Viele werden sich noch an den Spruch „Je suis Charlie“ erinnern, der nach dem Anschlag auf die französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo am 7. Januar 2015 entstand und die Solidarität mit den ermordeten Redaktionsmitgliedern zum Ausdruck bringen sollte. Nur scheinbar perfide und auf jeden Fall genial ist es daher, wenn Christian Schwochow diesen Slogan in seinem neuen Film „Je suis Karl“ aufgreift und variiert. Diesmal geht es nicht um islamistischen Terror gegen demokratische und linke Gruppierungen oder gar die westliche Gesellschaft insgesamt, sondern um die illustre Vereinnahmung des Slogans und der Idee von Widerstand von rechtsextremistischer Seite. Sie zielt auf die Mitte der Gesellschaft und insbesondere auf junge Menschen und möchte sie für sich einnehmen. Da werden Terroranschläge und die allgegenwärtige diffuse Angst vor anonymer Gewalt genutzt und sogar inszeniert, um die eigenen Machtansprüche zu manifestieren. Mit anderen Worten: Die eigentliche Perversion liegt auf Seiten rechtsextremer Gruppierungen in ganz Europa, auf den Film konkret bezogen von Prag über Berlin bis nach Straßburg.
Nach einem kurzen Prolog beginnt „Je suis Karl‟ mit einem Schock. Als Alex Baier ein Paket für eine Nachbarin annimmt und in seine Wohnung bringt, ahnt er nicht, dass sich darin eine Bombe befindet. Wenige Momente später liegt das Wohnhaus mitten in Berlin in Schutt und Asche. Alex’ Frau und seine beiden kleine Söhne sind tot. Nur Alex und seine etwa 20-jährige Tochter Maxi, die gerade nicht zu Hause war, überleben den Anschlag. Beide verarbeiten das Trauma sehr unterschiedlich. Bedrängt von sensationsgierigen Reporter*innen nimmt Maxi die Hilfe des charismatischen jungen Karl bereitwillig an, den sie kurz nach dem Attentat scheinbar zufällig trifft. Gerade weil Maxi in ihrem Vertrauen so tief erschüttert ist, verfällt sie den fast schon liebevollen Beteuerungen von Karl immer mehr und lässt sich davon überzeugen, dass die Regierung unfähig sei und die Zukunft denjenigen gehöre, die „Missstände‟ brandmarken und ein neues, anderes Europa heraufbeschwören.
Früh offenbart der Film in einer Rückblende, dass Karl verantwortlich für den Anschlag ist, diesen gezielt als islamistisch motiviert inszeniert hat und nun Maxi als Überlebende und Anschlagsopfer brutal für seine Zwecke instrumentalisiert. Vielleicht nur auf diese Weise lässt sich die Ambivalenz seiner smarten, zynischen und gerade deswegen so unmenschlichen Haltung vermitteln, die Darsteller Jannis Niewöhner sehr glaubwürdig vermittelt.
Maxi aber erkennt dies nicht. Sie ist sogar bereit, mit ihm zu schlafen, obwohl er sich politisch für die Wiedereinführung der Todesstrafe ausspricht und nicht von einer Gleichwertigkeit der Menschen ausgeht. Bei einer Wahlkampfveranstaltung für eine befreundete rechtsextremistische Politikerin in Straßburg, an der Karl als Redner teilnehmen wird, soll auch Maxi auf der Bühne ihre persönlichen Gefühle äußern und sich offen gegen das politische Establishment wenden, das angeblich die Schuld am Tod ihrer Familie trägt. Während Maxis Vater sich auf die Suche nach seiner Tochter macht, spitzt sich die ohnehin angespannte politische Lage in Europa zu und steuert, angefeuert von Karls Plänen, auf eine Eskalation zu.
„Je suis Karl“ gehört zweifelsfrei zu den besten Filmen über politischen Rechtsextremismus, die in den letzten Jahren gedreht wurden. Das gilt unabhängig davon, ob man die unübersehbaren Anspielungen etwa an die französische Partei von Marine Le Pen für adäquat und wirklich produktiv hält. Denn weit mehr als um konkrete rechtsnationale Parteien und Strukturen geht es in diesem Film um grundsätzliche Fragen nach der Verführbarkeit insbesondere von jungen Menschen und um die Genese von extremistischem Verhalten und Handeln. Sind wir auch dann vor solchen ideologischen Übergriffen geschützt, wenn es um das „Eingemachte“ geht, um das, was uns am liebsten ist, woran wir schon immer geglaubt haben, oder gar um unsere Familie? Drehbuchautor Thomas Wendrich und Regisseur Christian Schwochow hatten sich diese Fragen bereits 2016 in ihrer „Mitten in Deutschland‟-Fernsehtrilogie über den NSU gestellt und erkannt, dass die Rechten längst nicht mehr eindeutig zu erkennen sind, sondern eher wie der Wolf im Schafspelz wirken und einen völlig neuen Look entwickelt haben. Ähnlich wie beim Islamismus läuft auch hier der Prozess der Radikalisierung anders, oft völlig neu und nicht selten logisch oder psychologisch nicht genau erklärbar ab. Das macht diese Entwicklung so gefährlich und unbeherrschbar. Darauf mit den Mitteln eines Familiendramas und einem Polit-Thriller hingewiesen zu haben, macht diesen spannenden und nachdenklich stimmenden Film so wichtig und geradezu unverzichtbar.
Holger Twele
Je suis Karl - Deutschland/Tschechische Republik 2021, Regie: Christian Schwochow, Kinostart: 16.09.2021, FSK: ab 12, Empfehlung: ab 15 Jahren, Laufzeit: 126 Min. Buch: Thomas Wendrich. Kamera: Frank Lamm. Musik: Tom Hodge, Floex. Schnitt: Jens Klüber. Produktion: Pandora Film Produktion, Negativ Film, WDE, ARD Degeto, Rundfunk Berlin-Brandenburg, Arte. Verleih: Pandora. Darsteller*innen: Luna Wedler (Maxi Baier), Jannis Niewöhner (Karl), Milan Peschel (Alex Baier), Edin Hasanovic (Ante), Anna Fialová (Jitka), Fleur Geffrier (Odile Leconte), Aziz Dyab (Yusuf) u. a.
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