Ava
Während die 13-jährige Ava allmählich ihr Augenlicht verliert, beginnt sie sich völlig neu zu spüren.
Es soll „der beste Sommer“ ihres Lebens werden, hat Avas Mutter ihr versprochen. Doch für Ava beginnen die Ferien mit einem Schock: Sie wird erblinden. Dass sie in der Dämmerung, in der Nacht schon nichts mehr sehen kann, ist erst der Anfang. Ihre Netzhaut löst sich auf. Der Radius ihres Gesichtsfelds wird immer enger werden bis er sich irgendwann schließt. „Ich bin 13“, hat sie dem Augenarzt trotzig gesagt und ihre großen braunen Augen zugekniffen. Doch die Krankheit nimmt auf ihr Jungsein keine Rücksicht. Im Auto hat Maud, ihre Mama, geweint. „Das Härteste wird sein, es zu akzeptieren“. Und Ava tut es auf ihre Art und Weise.
Manchmal verbindet sie sich die Augen. Sie will sich vorbereiten, ihre anderen Sinne trainieren, aber auch wissen, wie weit sie gehen kann. Mit schwarzer, dicker Farbe malt Ava Kreise auf die Wand. Und sie schaut zu, wie ihre Mutter ihre Traurigkeit bald vergisst. Wie peinlich sie ist. Will mit ihr wie eine Freundin über Liebe und Sex sprechen. Läuft halbnackt vor ihr herum und turtelt mit dem hübschen Tété, der doch so viel jünger und ganz gewiss „ein Gigolo“ ist. Und wenn Maud ein Date hat, muss Ava auf ihre kleine Schwester aufpassen, die noch nicht krabbeln, aber lautstark plärren kann. Es ist alles zu viel. Der schönste Sommer ist für Ava einfach unerträglich.
Mit ihrem Debütfilm, der zugleich ihr Abschlussfilm an der Pariser Filmschule La Fémis ist, erzählt Léa Mysius zunächst einmal davon, wie ein junges Mädchen ihr Kindsein hinter sich lässt. Mit Noée Abita hat die Regisseurin eine eindringliche Darstellerin für ihre Hauptfigur gefunden, die das alles vermitteln kann – die Wut, die Unsicherheit, die Einsamkeit und diese Verachtung, die diesem Alter so oft zu eigen ist. Ava ist eine Schönheit, aber davon ahnt das Mädchen nichts. Fast ungelenk, aber kraftvoll bewegt es sich. Alles Körperliche ist Ava – im Gegensatz zu ihrer Mutter – unangenehm. Die Arme hat sie immerzu vor der Brust verschränkt, als wenn sie die ganze Welt abwehren müsste.
Was so ganz im Realen wie eine klassische Coming-of-Age-Geschichte beginnt, verwandelt sich alsbald in etwas Traumhaftes, Surreales, fast Märchenhaftes. Da ist etwa dieser schwarze Schäferhund, der sich ganz zu Beginn seinen Weg durch all die Sommerfrischler am Strand bahnt und zielstrebig zu Ava läuft, die dösend am Wasser liegt. Dieser Hund wird sie zu Juan führen, einem jungen Roma, der wegen einer Schlägerei nicht mehr zu seiner Familie kann und in einem der übrig gebliebenen Bunker der Atlantikküste seinen Unterschlupf gefunden hat. Die Polizei ist ihm ständig auf den Fersen. Juan spricht nicht viel. Er schickt Ava fort, doch als er verwundet wird, kümmert sich Ava um ihn und bleibt. Juan mit dem dunklen Marmorgesicht, den Locken und der gepiercten Lippe ist einer dieser Typen, vor dem jede Mutter ihre Tochter warnen würde. Und tatsächlich zieht er das Mädchen mit sich und fort von allem, was vorher war. Plötzlich ist ein Körper etwas, was Ava will.
„Ava“ strotz nur so vor Metaphern, Symbolen und Vielsagendem. Zuweilen kann es einem zu viel werden, doch die starken Bilder lassen einen nicht los. Der schwarze Hund, die schwarzen Pferde der Polizisten am Strand. „Hast du Angst vor dem Dunklen?“, fragt Juan Ava. Die Alpträume, die das Mädchen plagen und fast schon pornografisch sind. Die düsteren Vorahnungen von Matthias, der Ava einmal küssen darf. Und die warmen Farben, das flirrende Sommerlicht, die den Film, der auf 35mm gedreht wurde, wie etwas längst Vergangenes wirken lassen. „Ava“ ist immer alles auf einmal: real und unwirklich, verträumt und gefährlich. „Du bist wild“, sagt Juan. Gemeinsam überfallen er und Ava mit Kriegsbemalung im Gesicht die Nudist*innen am Strand, während Sharon Jones „She ain’t a child no more“ singt. Manchmal erinnern die beiden an Marianne und Ferdinand aus Jean-Luc Godards „Elf Uhr nachts“ (1965), dann wieder an Bonnie und Clyde. Wie zwei Gesetzlose ziehen sie weiter und man weiß nicht, wie es mit ihnen weitergehen und wohin sie die Reise führen wird. Doch Avas Krankheit ist da und sie bleibt. Der Film wird fast unmerklich immer dunkler und wenn Ava am Schluss das Gesicht von Juan fast nur noch schemenhaft sieht, dann sieht sie selbst nicht mehr wie das 13-jährige Mädchen aus, das sie einmal war.
Kirsten Taylor
Ava - Frankreich 2017, Regie: Léa Mysius, Kinostart: 27.09.2018, FSK: ab 12, Empfehlung: ab 15 Jahren, Laufzeit: 105 Min., Buch: Léa Mysius, Paul Guilhaume, Kamera: Paul Guilhaume, Schnitt: Pierre Deschamps, Musik: Florencia Di Concilio, Produktion: Jean-Louis Livi, Fanny Yvonnet, Verleih: eksystent distribution, Besetzung: Noée Abita (Ava), Laure Calamy (Maud), Juan Cano (Juan), Tamara Cano (Jessica) u. a.
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