Jim Knopf und die Wilde 13
Wo kommt Jim Knopf her? Die kongeniale Literaturadaption geht erneut mit großer Fabulierlust in die zweite Runde.
Als vor zweieinhalb Jahren „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ (Dennis Gansel, 2018) in die Kinos kam, war die Begeisterung groß. Und das zu Recht: Michael Endes berühmter Roman funktionierte tatsächlich als süffig inszenierte, üppig ausgestattete und liebevoll gespielte Abenteuerreise! Dabei dürfte manche*r (erwachsene) Kinobesucher*in mitunter verstohlen auf Annette Frier als Frau Waas, Henning Baum als Lukas, Christoph Maria Herbst als Herr Ärmel oder Uwe Ochsenknecht als König Alfons geblickt und sich gefragt haben: Wo sind denn da die Fäden an meinen vertrauten, liebgewonnenen Figuren? Denn in vielen Momenten war „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ weniger eine Adaption des Ende-Romans als eine tricktechnisch aufwändige Realverfilmung der legendären Marionetten-Inszenierung der Augsburger Puppenkiste. Thomas Hettche hat in seinem neuen Roman „Herzfaden“ eindrücklich beschrieben, was es heißt, wenn eine Holzpuppe lebendig wird, weil ihre Fäden „am Herzen der Zuschauer festgemacht“ sind. Solch einer magischen Verbindung könnte sich auch Regisseur Dennis Gansel bewusst gewesen sein, als er die Abenteuer des Findelkinds Jim Knopf und seines Ersatzvaters Lukas fürs Kino inszenierte.
Auch jetzt gibt Gansel wieder ordentlich Gas und holt tricktechnisch das Optimum aus der liebenswerten, altmodischen und dabei noch viel ereignisreicheren Fortsetzung des Abenteuerstoffs heraus. Lummerland ist, nun im Verbund mit Neu-Lummerland, immer noch die perfekte idyllische Sehnsuchtsinsel, von der aus Jim und Lukas ein weiteres Mal ins Abenteuer aufbrechen. Nachdem der Postbote eines nachts ans Ufer des vergrößerten Königreichs stieß, soll der Scheinriese Herr Tur Tur als lebender Leuchtturm mit Laterne nach Lummerland geholt werden, vor allem aber gilt es, Jims weiterhin im Dunkeln liegende Herkunft zu erforschen und der üblen Piratenbande der Wilden 13 das Handwerk zu legen. Der Drache Mahlzahn, einst sadistische Lehrerin der von den Piraten geraubten Kinder in der Drachenstadt, erwacht nach langem Schlaf als Goldener Drache der Weisheit und gibt den beiden Lokomotivführern kluge, aber nur schwer zu deutende Ratschläge. Jim beherzigt sie alle, mutig, fantasiereich und klug: Im Auge des Sturms ergreift er den Stern, macht sich zum Herrn und das Ungerade gerade.
Bei allen grandiosen Tricks, Kulissen und Kostümen konserviert der Film einmal mehr aufs Allerschönste den liebenswert aus der Zeit gefallenen Charme des Romans. Viel weniger als im ersten Teil denkt man noch an die Marionetten-Puppenkiste, staunt vielmehr über den grandiosen Erzähler Michael Ende (1929-1995), der sich die Geschichte vor 60 Jahren ausdachte. Als man ihn einmal fragte, was er mit „Jim Knopf“ hätte sagen wollen, wurde er grantig: „Nichts! Nichts, außer die kindliche Fantasie anregen.“ Dabei war der mutige und unbekümmerte Jim so etwas wie seine erste Liebe: „Man hat vielleicht später wichtigere und schicksalhaftere Lieben, aber die erste Liebe behält irgendwie einen Zauber, der sich nicht mehr wiederholt. So geht es mir mit dem Jim Knopf.“ Dass Jim ein Junge mit schwarzer Hautfarbe ist und dass die chinesischen Figuren verballhornende Namen tragen, brachte dem Roman gerade in jüngster Zeit harsche Vorwürfe ein. Tatsächlich arbeitete Ende mit vielen Klischees, auch was vermeintlich typische Äußerlichkeiten angeht. Der Film umschifft solche Klippen durchaus geschickt, weil er ohnehin auf die sprachlich „bereinigte“ Romanfassung zurückgreift, vor allem aber weil er wie der Roman aus den vielen Ethnien und Lebensformen gar nicht erst ein Problem macht, sondern allen mit gleich viel Respekt und höflichem Interesse begegnet. Offensichtlich war ihm der sanfte Herr Tur Tur dabei ein unaufgeregter Ratgeber, als er einmal philosophierte: „Warum soll man nicht schwarz sein? Aber so denken leider die meisten Leute nicht.“
So liebenswürdig wie unaufgeregt konzentriert sich der Film auf das Wesentliche: die Purzelbäume schlagende Fabulierfreude, mit der Michael Ende sein Loblied auf unverbrüchliche Freundschaft, Solidarität und eben auf die kindliche Fantasie anstimmte. Wie immer bei Ende erweist sich auch hier eine heillose Welt letzlich als heilbar, weil sich die Figuren allen Willfährigkeiten mutig entgegenstellen, aufrecht und gerecht handeln und so ihren Platz im Leben finden: Jim, Herr Tur Tur, der Halbdrache Nepomuk, Herr Ärmel, Seejungfrau Sursulapitschi und selbst die Piraten der Wilden 13. Es ist ein kleines Wunder, wie kongenial der Film den Roman abbildet, sodass man es ihm sogar gerne verzeiht, dass er einem den Schildnöck Uschaurischuum ebenso vorenthält wie die am Ende gläsern gewordene Lokomotive Molly. Dafür wurde Prinzessin Li Si nun ein angemessen selbstbewusstes Mädchen, das am Ende nicht mehr kochen und den Haushalt führen lernen muss und erst recht nicht in eine Kinderehe mit Jim als Prinz Myrrhe von Jamballa gezwungen wird.
Ganz zum Schluss noch etwas, das auffällt und einem ohne Corona-Pandemie womöglich entgangen wäre: Selbst in den größten Schlachten fallen sich die Figuren immer wieder um den Hals, herzlich und erwärmend: Umarmungen, „je länger, je lieber“, wie es auf Jims neuem Thron eingemeißelt ist.
Horst Peter Koll
Jim Knopf und die Wilde 13 - Deutschland 2020, Regie: Dennis Gansel, Kinostart: 01.10.2020, FSK: ab 0, Empfehlung: ab 8 Jahren, Laufzeit: 105 Min. Buch: Dirk Ahner, nach dem gleichnamigen Roman von Michael Ende. Kamera: Philip Peschlow. Musik: Ralf Wengenmayr, Marvin Miller. Schnitt: Ueli Christen. Produktion: Rat Pack/Warner Bros./JM/Michael Ende Filmproduktion/Malao Fim. Verleih: Warner. Darsteller*innen: Solomon Gordon (Jim Knopf), Henning Baum (Lukas), Leighanne Esperenzate (Li Si), Milan Peschel (Herr Tur Tur), Rick Kavanian (Die Wilde 13), Sonja Gerhardt (Sursulapitschi), Annette Frier (Frau Waas), Christoph Maria Herbst (Herr Ärmel), Uwe Ochsenknecht (König Alfons) u. a.
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