Zu weit weg
Wie fühlt es sich an, wenn man alles Vertraute verliert und von vorne beginnen muss?
Bald wird alles vorbei sein: Ben wird nicht länger Stürmer in seiner Fußballmannschaft sein, er wird nicht mehr in der Nähe seines besten Freundes wohnen, er wird sein Zimmer nicht mehr haben. Ben muss mit seinen Eltern umziehen. Weil das gesamte Dorf Niederkirchbach dem Braunkohleabbau weichen muss und bald abgerissen wird. Die Behörden nennen das beschönigend „Rückbau‟. Aber für Ben ist es eine Katastrophe.
Schon in den ersten Szenen zeigt der Film in einem eindrucksvollen Bild, was dieser Umbruch für den elfjährigen Jungen bedeutet. Mit dem Fahrrad fährt er auf eine Anhöhe und blickt von dort über eine weite Ebene, in der sich riesige Bergwerksmaschinen langsam voranschieben. Brachland bis zum Horizont. Alles wird zerstört, nichts bleibt mehr. Ben ist ebenso fasziniert wie verunsichert.
Während die meisten Einwohner von Niederkirchbach ins nahe gelegene Neu ziehen, haben sich Bens Eltern ein Haus in Düren gekauft. So kommt es, wie es kommen muss. Der Kontakt zum ehemals besten Freund reißt ab, in der neuen Klasse fühlt Ben sich nicht wohl und, noch viel schlimmer, in der neuen Fußballmannschaft verbannt man ihn auf die Ersatzbank, obwohl er ein richtig guter Spieler ist. Erst als er Tariq kennen lernt, der aus Syrien geflüchtet ist und nun allein in Deutschland lebt, wird es besser. Tariq lässt ihn in der Schule spicken, kann toll Fußballspielen und ist in Düren genauso neu wie Ben.
Beide Kinder fühlen sich entwurzelt. Aber der Film ist so klug, ihre Erfahrungen nicht einfach zu vergleichen oder gar auf eine Ebene zu stellen. In einer schönen Szene zeigt er, wie Tariq und Ben in Bens altem Dorf den Abriss eines Hauses beobachten. Dabei ist es Tariq, der Ben stützt, weil er seine Traurigkeit versteht – während Ben dieses Mitgefühl fast peinlich ist, weil er weiß, das seine Situation nicht annähernd so existenziell ist wie die von Tariq. Trotzdem nimmt „Zu weit weg‟ die Gefühle beider Jungen ernst, so unterschiedlich die konkreten Umstände auch sind.
Nicht außer Acht gelassen werden darf dabei, dass „Zu weit weg‟ die Geschichte aus dem Blickwinkel von Ben erzählt. Mit Bens Augen erlebt das Publikum die Wut über den aufgezwungenen Neuanfang und all die Rückschläge sowie den Wunsch, die Zeit zurückzudrehen – und lässt etwa bei einem Besuch von Ben in dem mittlerweile zur Geisterstadt verkommenen Ort in einer traumähnlichen Szene Vergangenheit und Gegenwart anrührend ineinanderfließen. Tariqs Geschichte hingegen wird nicht auserzählt. Zumeist sind es kurze Momente, die erahnen lassen, was dieser Junge im Bürgerkrieg und auf seiner Flucht erlebt haben mag: Beim Feueralarm in der Schule kauert er ängstlich am Boden, ein Spiel mit Bauklötzen endet mit Zerstörung. Dass diese Szenen vage bleiben, lässt sie umso intensiver wirken – sofern das Publikum das entsprechende Vorwissen hat, um sie zu deuten, einzuordnen und zu ergänzen.
Durch Tariq lenkt „Zu weit weg‟ den Blick so auch auf das Schicksal geflüchteter Kinder und Jugendlicher, zumal auch die Suche von Tariq nach seinem älteren Bruder, von dem er während der Flucht getrennt wurde und den er nun sucht, dramaturgisch zunehmend eine bedeutendere Rolle spielt. Überzeugend aber ist der Film vor allem als universelle Geschichte über das Abschiednehmen und die Suche nach einem (neuen) Platz für sich in der Welt – und über den Halt, den eine Freundschaft dabei geben kann. Besonders bemerkenswert ist, dass es hier nicht nur gemeinsame Erlebnisse sind, die Ben und Tariq zusammenschweißen. Sie werden zu Freunden, weil sie sich unterstützen und trösten, sich Mut machen und einander zuhören, und weil sie sich mal mit, mal ohne große Worte verstehen.
Stefan Stiletto
Zu weit weg - Deutschland 2019, Regie: Sarah Winkenstette, Kinostart: 02.07.2020, FSK: ab 0, Empfehlung: ab 10 Jahren, Laufzeit: 91 Min. Buch: Susanne Finken. Kamera: Monika Plura. Musik: André Dziezuk. Schnitt: Nicole Kortlüke. Produktion: Milena Klemke, Yvonne Wellie, Jakob D. Weydemann, Jonas Weydemann. Verleih: Farbfilm. Darsteller*innen: Yoran Leicher (Ben), Sobhi Awad (Tariq), Anna König (Nane), Andreas Nickl (Sven), Mohamed Achour (Trainer Rainer), Julia Hirt (Isa) u. a.
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