Freda
Eine Entscheidung muss her! Nicht nur bei der Studentin Freda: In Haiti bleiben oder gehen. Aber darf sie als Frau überhaupt gehen?
Die Anthropologie-Studentin Freda lebt mit ihrer Mutter und zwei Geschwistern in einem armen Viertel von Port-au-Prince, der Hauptstadt von Haiti. Sie engagiert sich politisch gegen die weit verbreitete Korruption. Mutter Jeanette betreibt in ihrem Häuschen einen kleinen Lebensmittelladen. Schwester Esther, die sich ihre Haut mit Aufhellungscremes bleicht, wird einen wohlhabenden Senator heiraten. Bruder Moïse soll auf Wunsch der Mutter, die einer evangelikalen Kirche angehört, zum Geldverdienen nach Chile gehen. Der Künstler Jeshua, mit dem Freda seit 5 Jahren zusammen ist, hat Haiti bereits verlassen. Nachdem er durch eine verirrte Kugel einen Bauchschuss erlitten hat, ist er in die benachbarte Dominikanische Republik gezogen. Er möchte, dass Freda ihm folgt, doch sie zögert, will die Familie nicht im Stich lassen, auch wenn Armut, Korruption und gewalttätige Massenproteste zunehmen. Freda, deren Name auf die Voudou-Göttin für Liebe verweist, ist hier allerdings nicht die einzige Person, die sich entscheiden muss: Bleiben oder auswandern?
Die Autorin, Regisseurin und Sängerin Gessica Généus erzählt in ihrem von persönlichen Erfahrungen inspirierten Kinodebüt konsequent aus der Perspektive einer Schwarzen Feministin und zeigt anschaulich die begrenzten Optionen auf, die Frauen in der von Männern dominierten patriarchalischen Gesellschaft Haitis haben. Während Freda von Nationalstolz erfüllt und entschlossen ist, für eine bessere Zukunft zu kämpfen, ist ihre Schwester Esther als pragmatische Kontrastfigur angelegt, die sich anpasst, um unter den vorherrschenden Bedingungen das Beste für sich herauszuholen. Mutter Jeanette wiederum flüchtet vor der täglichen Not in die christliche Religion. Warum das Verhältnis zwischen ihr und Freda so angespannt ist, wird erst klar, als ihre Tochter in einem Streitgespräch schwere Vorwürfe gegen sie erhebt: Vor Jahren habe Jeanette Freda zum Vertuschen einer Vergewaltigung gezwungen. Néhémie Bastien, Djanaina François und Fabiola Rémy verkörpern dieses Frauentrio, das im Dauerclinch mit der Verzweiflung um Solidarität ringt, mit beeindruckender Leidenschaft.
Zwischen die Spielszenen baut Généus hin und wieder Archivaufnahmen der Massendemonstrationen von 2018 so geschickt ein, dass die Übergänge kaum erkennbar sind. Damals protestierten Tausende Haitianer*innen gegen die Veruntreuung von Geldern aus einem Ölprogramm durch Regierungsmitglieder und forderten den Rücktritt von Präsident Jovenel Moïse, der schließlich 2021 ermordet wurde. Die dramatischen Erlebnisse der Familie wechseln sich häufig mit Beobachtungen des Alltags ab, die einerseits schwierige Lebensbedingungen aufzeigen, andererseits unerschütterliche Lebensfreude vermitteln. Zu den stärksten Szenen des Films gehören die heftigen Debatten in Fredas Seminar über das Versagen der politischen Elite, Korruption, Colorism, Klassengegensätze und die Spätfolgen des französischen Kolonialherrschaft. Wie kann Haiti einen Weg hieraus finden? Eine Lösung hat keine*r der Studierenden parat.
Reinhard Kleber
Übrigens: Darüber, was „Freda“ und andere Filme auszeichnet, sprechen wir in Intersektionale Perspektiven im Film. Ein Beitrag, der im Rahmen der Themendossiers „Gender & Lieben“ sowie „Migration“ entstanden ist. Werfen Sie doch mal einen Blick rein.
Haiti, Frankreich, Benin 2021, Regie: Gessica Généus, Kinostart: 14.07.2021, Homevideostart: 03.11.2022, FSK: ab 12, Empfehlung: ab 16 Jahren, Laufzeit: 92 Min., Buch: Gessica Généus, Kamera: Karine Aulnette, Schnitt: Rodolphe Molla, Produktion: SaNoSi Productions, Ayizan Production, Merveilles Productions, Verleih: Nour Films, Besetzung: Néhémie Bastien (Freda), Djanaina François (Esther), Fabiola Rémy (Jeanette), Cantave Kerven (Moïse), Jean Jean (Yeshua), Rolapthon Mercure (D-Fi), Gaelle Bien-Amie (Géraldine), Paula Clermont (Marlène), u. a.
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