Rot
In Mei steckt mehr als nur eine fleißige Schülerin: Der rote Panda in ihr sprengt die transkulturellen Vorstellungen von Frausein.
Vieles wurde schon in Pixar-Filmen verhandelt: Freundschaften in allen Variationen (zum Beispiel in den „Toy Story‟-Filmen, seit 1996), das Anderssein („Luca‟, Enrico Casarosa, 2021), Gefühle, Denken und Erinnerungen („Alles steht Kopf‟, Pete Docter 2015), ja sogar Glück und der Sinn des Lebens („Soul‟, Pete Docter, 2020). Zu dieser Palette fügen sich nun Themen hinzu, die ziemlich überraschend sind für das kalifornische Studio. „Rot‟ erzählt über den Beginn der Pubertät, über Schmetterlinge im Bauch – und ja, ganz sanft und unaufdringlich, auch über Körperlichkeit und sexuelles Erwachen. Als ob das alles noch nicht genug mutiges Neuland wäre, unterscheidet sich auch der Look dieses CGI-Films deutlich von den vorherigen Produktionen und orientiert sich mehr am Stil japanischer Animationsfilme als an US-amerikanischer Cartoon-Ästhetik. Ein wilder Spaß, der ein weiteres Mal bestätigt, dass Pixar noch immer eins der besten Animationsstudios ist.
Im Jahr 2002 setzt die Handlung ein, als Tamagotchis noch regelmäßig gefüttert und geherzt werden mussten, um nicht einzugehen, gecastete Boygroups mit eingespielten Moves, Rollen und Songtexten noch die Herzen meist weiblicher Fans in Wallung brachten, Fernseher noch klein, nahezu quadratisch und klobig waren und Mobiltelefone weder sonderlich handlich noch schlau. Mei lebt mit ihrer Familie in Toronto und betreibt dort, ihren chinesischen Vorfahren zu Ehre, einen kleinen Tempel. Mit ihrer Mutter ist sie ein eingespieltes Team, auch weil Mei nicht widerspricht und stets gute Noten nach Hause bringt. Im Grunde läuft alles gut und Mei fühlt sich mit ihren 13 Jahren auch schon ziemlich erwachsen. Und dann überschreitet ihre Mutter eine Grenze. Als sie Zeichnungen von Mei findet, die einen Jungen aus dem Supermarkt teils betont körperlich, teils in romantischen Posen mit Mei zeigen, stürmt sie in das Geschäft und stellt den Jungen zur Rede. Peinlicher kann es kaum werden, denkt sich die am Boden zerstörte Mei. Und am nächsten Tag wird es noch schlimmer. Beim Blick in den Spiegel steht dort plötzlich ein riesiger Roter Panda – immerhin flauschig und niedlich, aber doch ziemlich haarig und müffelnd. Indem es ihr gelingt, sich zu beruhigen, kann Mei sich wieder zurück verwandeln. Aber dennoch ist sie irritiert und entsetzt. Noch mehr, als ihre Mutter ihr ein Familiengeheimnis beichtet. In Meis Familie trifft diese Verwandlung beim Erwachsenwerden offenbar alle Frauen. Doch es gibt Abhilfe: Ein Ritual kann dabei helfen, den inneren wilden Panda zu zähmen.
Von nun an beginnt für Mei ein Spießrutenlauf. Drei Wochen bis zum Ritual muss sie aushalten und lernen, den Panda in sich zu kontrollieren. Es dauert nicht lange, bis ihre Freundinnen ihrem Geheimnis auf die Schliche kommen. Und nicht viel länger, bis noch mehr Schulkamerad*innen davon erfahren und Mei ihre eigene Art findet, den Panda für ihre Zwecke zu nutzen. Schließlich lässt sich mit Panda-Fotos und -Merchandise das Geld verdienen, das nötig ist, um sich ein Konzertticket für die Boyband 4*Town zu leisten, auf die Mei und ihre Freundinnen so sehr stehen. Nur wissen darf ihre Mutter von all dem nichts. Nicht von dem geplanten Konzertbesuch und schon gar nicht den Panda-Verwandlungen, durch die Mei den Panda als einen Teil von sich erkennt und ins Herz zu schließen beginnt.
Wild und hektisch geht „Rot‟ los, wenn Mei sich zu Beginn des Films selbst vorstellt, ein Stil, der eher an andere „laute‟ CGI-Animationsfilme denken lässt als an Pixar-Filme, die immer näher an den Figuren waren. Aber hier passt es. Wie in „The Mitchells vs. the Machines‟ ist der ganze Film so inszeniert, als ob man die Welt mit den Augen von Mei sehen würde – eine deutliche Abkehr vom Fotorealismus und der naturalistischen Nachbildung von Bewegungen und Orten. Ganz deutlich sind hier die Einflüsse von Animes zu spüren, die die Regisseurin Domee Shi – die erste Regisseurin eines Pixar-Films überhaupt, wenn man von Brenda Chapman absieht, die jedoch im Laufe der Produktion von „Merida‟ den Regiesessel an einen Mann abtreten musste – selbst als Jugendliche geprägt haben. So imitiert „Rot‟ in vielen Szenen die oftmals bewusst übertriebene Mimik und Gestik von Anime-Figuren, zeigt Schweißtropfen und Sternchen in den Augen, slapstickhafte Posen und weitaufgerissene Augen und Münder. Aber auch die visuelle Poesie vieler Animes fließt in den Film ein, nicht zuletzt, wenn Shi Mei als Panda ausgelassen über die Dächer springen lässt und damit Mamoru Hosoda und dessen „Das Mädchen, das durch die Zeit sprang‟ aus dem Jahr 2007 Tribut zollt.
Zugleich aber ist „Rot‟ mehr als nur formale Spielerei. Der Rote Panda ist eine perfekte Metapher für Meis Veränderung und Gefühle. Das fantastische Wesen zeigt die Übermacht der Gefühle, aber auch Meis Ausgelassenheit, die sie zuvor oft verborgen hat, er zeigt, dass sie nun größer wird und auch körperlich eine andere wird – und durch seine rote Farbe steht er gemäß der chinesischen Tradition zugleich für Glück.
Klug und schließlich auch berührend erzählt der Film darüber, wie Mei die Veränderung ihres Körpers und auch die Veränderung ihres Selbstbilds wahrnimmt und in eine neue Rolle findet. Schnell merkt sie, dass sie nicht länger die brave Tochter sein kann und will, sie merkt, dass sie andere Ziele und Vorstellungen hat als ihre Mutter – und daraus entsteht der zentrale Konflikt: Wie soll Mei sich lösen und auf Distanz gehen und ihrer Mutter dabei gleichzeitig nah bleiben? Mit viel Freude an der Übertreibung spitzt der Film diesen Konflikt zu und lässt ihn in einem geradezu epischen Finale enden – nur um im entscheidenden Moment dann auch wieder zur Ruhe zu finden und wieder zum Innersten der Figuren zurückzufinden.
Mit den Mitteln des Animationsfilms findet „Rot‟ starke, wirkungsvolle und unaufdringliche Bilder, um über ein Mädchen zu erzählen, das zur jungen Frau heranwächst. Und es ist schlicht großartig, wie selbstverständlich hier über Menstruation gesprochen wird und wie schlichte Bilder der Film für das erwachende sexuelle Interesse von Mei findet. Erst zeichnet Mei gedankenverloren nur ein ein einfaches Bild eines Jungen in ihren Block. Nach einem prüfenden Blick auf den nackten Oberkörper folgen erst zaghaft, dann immer forscher Striche für dessen Sixpack, schließlich folgt eine Meerjungfrauenflosse. Warum? Weil das, was sich unterhalb der Hüfte des Jungen verbirgt, für Mei eben noch eine Unbekannte ist. Das hat viel Witz und ist nicht zu offensiv – und doch ist damit alles gesagt.
Mehr noch als andere Filme des Studios schlägt sich der Film auf die Seite der jungen Protagonistin und erzählt über das Mädchen- und Frausein mit Facetten, die bislang nicht zur Sprache kamen. Es zeigt offensichtlich Wirkung, dass das Leitungsteam hinter „Rot‟ ausschließlich mit Frauen besetzt war.
Stefan Stiletto
Übrigens: Darüber, was „Rot“ und andere Filme auszeichnet, sprechen wir in Intersektionale Perspektiven im Film. Ein Beitrag, der im Rahmen der Themendossiers „Gender & Lieben“ sowie „Migration“ entstanden ist. Werfen Sie doch mal einen Blick rein.
Turning Red - USA 2022, Regie: Domee Shi, Homevideostart: 11.03.2022, FSK: ab 6, Empfehlung: ab 10 Jahren, Laufzeit: 100 Min., Buch: Domee Shi, Julia Cho, Sarah Streicher, Kamera: Mahyar Abousaeedi, Jonathan Pytko, Musik: Ludwig Göransson, Schnitt: Nicholas C. Smith, Steve Bloom, Produktion: Pixar.
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