mid90s
Ein 13-jähriger Junge sucht in einer Skater-Gruppe nach Orientierung. Eindrucksvolles, ebenso raues wie künstlerisches Regiedebüt von Jonah Hill.
Es beginnt mit einer Verletzung. Und es wird mit einer Verletzung enden. In der ersten Szene, ja sogar der ersten Einstellung des Films schlägt Stevies älterer Bruder auf ihn ein, danach betrachtet Stevie vor dem Spiegel seine blauen Flecken. „mid90s“, das Regiedebüt von Jonah Hill, lässt keinen Zweifel daran, dass dieser Junge etwas zu verlieren hat.
Stevie ist 13 Jahre alt und lebt mit seiner allein erziehenden Mutter und seinem Bruder in einem ziemlich heruntergekommenen Viertel von L.A., in dem weder das Hollywood-Sign der Traumfabrik zu sehen ist noch die Bewohner*innen große Träume zu haben scheinen. Stevie lebt in einer Welt aus Street-Fighter-Videogames und Teenage-Mutant-Ninja-Turtles-Bettwäsche, verehrt trotz der Gewaltausbrüche seinen großen Bruder, der mit Hanteln und Liegestützen seines Körper stählt und in der Hip-Hop-Szene ein Zuhause gefunden hat. Eine gewisse Art der Sicherheit und Zugehörigkeit, die Stevie fehlt – bis er fasziniert ein paar coole ältere Jungs vor einem Skater-Laden beobachtet. Sie sprechen eine derbe Sprache, überschreiten die Grenzen des guten Geschmacks, leben in einer Welt ohne Erwachsene. Und gleiten auf ihre Boards durch die Stadt und durch das Leben. Dank der Hilfe seines Bruders probiert Stevie bald selbst aus, auf einem Board zu stehen. Kurze Zeit später wird er seine Mutter bestehlen, um sich ein neues Skateboard zu kaufen. Je mehr Zeit er mit Fuckshit, Ray, Fourth Grade und Ruben verbringt, desto mehr tritt er in eine andere Welt ein. Eine Welt, in der geraucht wird, in der man nicht mehr auf das hört, was Erwachsene einem vorschreiben, in der getrunken und gekifft wird und in der erste sexuelle Erfahrungen warten. Eigentlich ist Stevie der Kleinste und der Jüngste. Hier wächst er nach und nach über sich hinaus und erfährt eine ihm unbekannte Anerkennung.
Bisweilen wird unglaublich viel gelabert in diesem Indie-Coming-of-Age-Film, der durch sein 4:3-Bildformat sowie das bewusst Unschärfen und Bildstörungen in Kauf nehmende 35mm-Material auch filmtechnisch die 1990er-Jahre wiederauferstehen lässt, in seinem Stil aber auch an die rauen Slacker-Filme von Richard Linklater aus jener Zeit erinnert. Getragen wird „mid90s“ von Sunny Suljic, der in der Rolle des Stevie auch ohne große Worte für sich einzunehmen weiß. Man spürt seine Sehnsucht, seinen Wunsch, dazuzugehören, seine Angst und Wut, als die Mutter versucht, ihm den Kontakt zu den verschrienen Ghettokids zu verbieten. Das Kinderzimmer mit den Reminiszenzen an die 1980er-Jahre wird ihm zu klein, er will sich emanzipieren – von seinem Bruder und seiner Mutter. Aber auch die anderen Jungs der Clique bleiben nicht konturlos. Eher nebenbei offenbart der Film, was sie antreibt und wie sie versuchen, auf die Widrigkeiten in ihrem Leben zu reagieren. Was sie alle verbindet, ist ihre Beharrlichkeit. So oft sie auch auf die Schnauze fallen, so oft stehen sie auch wieder auf.
Kongenial gesetzt ist dabei der Soundtrack und der Filmscore. Während eine immense Zahl an Songs unterschiedlichster Genres den Geist der 1990er heraufbeschwört und auf akustischer Ebene ein Gespür für diese Zeit vermittelt, treffen die wenigen Instrumentalstücke von Trent Reznor und Atticus Ross, die zuvor etwa die Filmmusik für David Finchers „The Social Network“ geschrieben haben, exakt ins Schwarze und bringen mit ihren minimalistischen, aber ungemein atmosphärischen Stücken die Melancholie der Geschichte auf den Punkt. Besonders zur Geltung kommen sie, weil in diesen Szenen die Originaltonspur zurückgenommen wird und der Film ihrem Score das Feld überlässt.
Obgleich mit einer Laufzeit von nur 85 Minuten ziemlich knapp erzählt, versteht es Hill, eine Vielzahl an Themen in seinem Film aufzugreifen, ohne diese verknappt wirken zu lassen. Sein Tonfall wechselt dabei von stillem Humor über betont komische Szenen bis hin zum großen Drama. Nur eines gelingt ihm nicht: Zweimal ist zu sehen, wie Stevie sich selbst „bestraft“, wie er sich mit einer Bürste den Oberschenkel aufkratzt oder sich gar mit einem Kabel stranguliert. Das sind drastische Szenen, die eigentlich eine Erklärung brauchen, hier aber in ihrer nüchtern beobachteten Beiläufigkeit ziemlich schockierend wirken. Ansonsten ist Hills Film kein nostalgischer Rückblick auf die Jugend, sondern das Porträt eines jungen Teenagers, der nach Orientierung sucht und sie in einer Gruppe findet, vor der man seine Kinder auf den ersten Blick lieber schützen will. Eine Initiationsgeschichte mit schmerzvollen Erfahrungen. Und mit der Hip-Hop- und Skater-Kultur als identitätsstiftendem Hafen.
Stefan Stiletto
mid90s - USA 2018, Regie: Jonah Hill, Homevideostart: 12.04.2019, FSK: ab 12, Empfehlung: ab 15 Jahren, Laufzeit: 85 Min., Buch: Jonah Hill. Kamera: Christopher Blauvelt. Musik: Trent Reznor, Atticus Ross. Schnitt: Nick Houy. Produktion: Eli Bush, Jonah Hill, Ken Kao, Scott Rudin, Lila Yacoub. Verleih: MFA+. Darsteller*innen: Sunny Suljic (Stevie), Na-kel Smith (Ray), Olan Prenatt (Fuckshit), Lucas Hedges (Ian), Katherine Waterston (Dabney), Ryder McLaughlyn (Fourth Grade), Gio Galicia (Ruben) u. a.
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