303
Jule und Jan reisen mit einem Wohnmobil in den Süden und reden, reden, reden.
Streng genommen sind Jule und Jan keine Jugendlichen mehr. Die beiden 24-jährigen Studierenden aus Berlin könnten mit beiden Beinen bereits fest im Leben stehen oder zumindest ein klares Ziel vor Augen haben. Doch Jule hat gerade ihre Prüfung nicht bestanden, leidet noch sehr unter dem Selbstmord ihres Bruders, der ihr ein altes Mercedes-Benz Wohnmobil 303 hinterlassen hat, und möchte mit diesem legendären Oldtimer aus den 1970er- und 1980er-Jahren zu ihrem Freund nach Portugal fahren. Jan wiederum hat vergeblich darauf gehofft, ein Stipendium zu bekommen. Frustriert macht er sich nach der Absage auf den Weg nach Spanien, um dort vielleicht seinen bisher unbekannten biologischen Vater zu finden. Zufällig lernen sich Jule und Jan auf ihren Reisen gen Süden auf einer Autobahnraststätte kennen. Es sollte eigentlich nur ein kurzer Anhaltertrip nach Köln werden, zumal sich schnell herausstellt, dass beide vollkommen unterschiedlicher Meinung sind. Jan findet den Menschen von Natur aus egoistisch, Jule dagegen grundsätzlich empathisch und kooperativ. Eigentlich könnte das sich anbahnende Roadmovie damit bereits zu Ende sein. Doch die beiden, die schon wieder getrennte Wege eingeschlagen hatten, finden wieder zusammen und lernen sich mit der Zeit genauer kennen. Mit ihren gleichen Träumen vom Fliegen entdecken sie dann die ersten Gemeinsamkeiten. So nähern sie sich auf ihrer mehrtägigen Reise nach Spanien beziehungsweise Portugal immer weiter an, bis es im letzten Drittel des Films zu einem ersten, geradezu erlösenden Kuss kommt. Lange vor diesem Zeitpunkt hat das Publikum begriffen, dass Jule und Jan geradezu füreinander geschaffen sind, selbst wenn beide zum Schluss noch weitere wichtige Erfahrungen sammeln müssen, die mit den ursprünglichen Beweggründen ihrer Reise zusammenhängen.
Regisseur Hans Weingartner, der 2004 mit seinem gesellschaftskritischen Drama „Die fetten Jahre sind vorbei“ einem internationalen Publikum bekannt wurde, lässt sich mit seinem neuen Film Zeit, sogar sehr viel Zeit. Auf ihrer langen Reise führen die beiden Protagonist*innen schier endlose und doch nie langweilige philosophische Gespräche über das Wesen und die Zukunft des Menschen, über sogenannte Systemimmanenz und die Grundprinzipien des Kapitalismus, über Darwinismus und Evolutionstheorie samt Abstammung des Menschen. Aber genauso über das Single-Dasein, das persönliche Durchsetzungsvermögen, die Wirkung von Stresshormonen beziehungsweise von zärtlichen Berührungen, über das Wesen der Liebe und über Monogamie, den Unterschied zwischen bloßem Verliebt sein und echter Liebe, den Zustand von Harmonie und nicht zuletzt über Nähe und Vertrauen, Treue und Fremdgehen. Und das sind alles Themen, die keineswegs nur für ältere, sondern auch schon für junge Menschen von Bedeutung sind. Ein Film also, in dem zwar ständig geredet, aber nicht nur blöd daher gequatscht wird, dem es gelingt, die Aufmerksamkeit zu fesseln und auf wunderbare Weise sogar auf Dauer zu halten, selbst wenn man nicht immer alles gleich verstehen muss oder nachvollziehen kann. Eine reife Leistung, nicht zuletzt von den beiden omnipräsenten Darsteller*innen Mala Emde und Anton Spieker, vor allem jedoch von Hans Weingartner. Ihm gelingt trotz der Überlänge – „303“ dauert knapp zweieinhalb Stunden – etwas im deutschen Film, was sonst eigentlich nur die Franzosen können, vielleicht nicht zuletzt deshalb, weil große Teile des Films tatsächlich in Frankreich spielen. Die abwechslungsreichen stimmungsvollen Landschaftsaufnahmen und der überaus gelungene Soundtrack tun ein Übriges, den Eindruck von Leichtigkeit der Erzählung zu erzeugen, der es gleichwohl nicht an Tiefe mangelt.
Holger Twele
303 - Deutschland 2018, Regie: Hans Weingartner, Kinostart: 19.07.2018, FSK: ab 12, Empfehlung: ab 15 Jahren, Laufzeit: 145 Min., Buch: Hans Weingartner, Silke Eggert, Kamera: Mario Krause, Sebastian Lempe, Schnitt: Benjamin Kaubisch, Karen Kramatschek, Musik: Michael Regner, Produktion: , Verleih: Alamode, Besetzung: Mala Emde (Jule), Anton Spieker (Jan) u.a.
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