Kritiken > Filmkritik
Kritiken > Lieblingsfilme > Capernaum – Stadt der Hoffnung

Capernaum – Stadt der Hoffnung

Ein etwa zwölfjähriger Junge klagt seine Eltern an. Wer Kinder haben will, muss auch Verantwortung für sie übernehmen.

Nadine Labakis neuer Film beginnt mit einem Affront. Der wohl zwölf Jahre alte – keiner weiß es so genau; die Eltern hatten keine Geburtsurkunde besorgt – Zain sitzt in einer Jugendhaftanstalt, weil er den von den Eltern oktroyierten Mann seiner minderjährigen Schwester niederstach. Aber nun verklagt er seine Eltern, steht als Ankläger vor dem Richter und erhebt sein ‚J’accuse’, wie es einstmals Emile Zola mit seinem berühmten offenen Brief in der Dreyfus-Affäre tat, gegen die in Wahrheit Verantwortlichen, nimmt seinen Vater und seine Mutter in die Pflicht: Sie sollen nicht weiterhin Kinder zur Welt bringen, wenn sie diese gar nicht versorgen können.

In Rückblenden erfährt das Publikum, dass die Eltern seine Schwester Sahar für ein paar Hühner mit dem Lebensmittelhändler Assad verkuppelt hatten, der zugleich Zains Arbeitgeber war. Mit trauriger Wut verlässt Zain daraufhin sein Heim, er hat kein festes Ziel. Glücklicherweise nimmt ihn nach einem Jahrmarktbesuch die junge Äthiopierin Rahil in ihrer beengten Wellblechhütte mit. Dort leben sie wie eine Kleinfamilie und unterstützen sich gegenseitig. Während Rahil zur Arbeit geht, versorgt Zain ihren kleinen Sohn Yonas. Doch eines Abends kehrt Rahil nicht nach Hause zurück. Zain macht sich auf die Suche nach ihr, im Schlepptau ihren kleinen Sohn, den er in einem großen Kochtopf auf einem Skateboard hinter sich her zieht. Zain jedoch findet sie nicht, ihre Spur hat sich für ihn verloren. Da er Yonas in den Straßen Beiruts nicht länger ernähren kann, gibt er ihn in die Obhut eines Bekannten der Mutter. Zain beschließt nach Europa auszuwandern. Dazu kehrt der Junge in die Wohnung seiner Eltern zurück, in der Hoffnung, seine Geburtsurkunde zu finden. Doch dort erfährt er vom Tod der geliebten Schwester; er macht deren Mann verantwortlich und nimmt Rache.

In der Rolle seiner Anwältin tritt Nadine Labaki für ihren jungen Protagonisten offensiv und engagiert ein. Aus Zains Anklage spricht zugleich Labakis Kritik an den Lebensumständen der libanesischen Unterschicht, die sie drei Jahre lang recherchierte. Obschon die Regisseurin daraus eine fiktive Geschichte spinnt, gibt sie ihr gleichzeitig dokumentarischen Charakter und bildet darin verschiedene Milieus ab. Die Rollen wurden mit Laiendarsteller*innen besetzt, die das geschilderte Umfeld aus eigener Erfahrung kennen. Doch nicht allein deren glaubwürdiges Spiel verleiht dem Film seine überzeugende Kraft. Er kleidet den Alltag in den Gassen der Armenviertel in einprägsame und anschauliche Bilder, die darin vorherrschende Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit ist plastisch zu greifen. Der Film führt vor Augen, dass die Kinder die Hauptlast zu tragen haben, sie leiden unter den ärmlichen Verhältnissen am meisten, auch wenn sie immer wieder erfinderisch mit ihrer Not umzugehen wissen. Die Empfindungen der Hauptfiguren, ein Leben zu führen, das sich unwirklich anfühlt, wie in einem Stück mitzuspielen, das nicht eigens für sie verfasst wurde, finden ein stimmiges Echo in Zeitlupen-Aufnahmen und der dann tranceartig werdenden Musik. Der Jahrmarkt wird zum Sinnbild dieser Gefühle.

Im Schicksal der Kinder bringt die Regisseurin organisch all die Themen zur Sprache, durch die deren Verletzbarkeit verursacht werden kann. Sie erzählt vom Leben auf engem Raum ohne jede Intimität, von mangelnder Beschulung, von Kinderarbeit, von Kinderheirat sowie zu früher Schwangerschaft und von widersprüchlichen Rollenzuweisungen. So muss Zain nicht nur seine Familie mitversorgen, sondern auch die Elternrolle für die kleine Schwester übernehmen. Einerseits wird er schon früh wie ein Erwachsener behandelt. Sobald er sich jedoch gegen die überkommenen Normen auflehnt, wie im Falle der Schwester, wird er wieder zum Kind gemacht. Die Schwester hingegen wird als sozialer Ballast empfunden, der möglichst früh zu verheiraten ist. Da sie von den Eltern nicht über ihren Körper aufgeklärt wurde, weiß sie ihn auch nicht zu schützen.

Labaki verschmilzt kunstvoll Gerichtsdrama mit Entwicklungsgeschichte. Damit lässt sie nicht nur die Sichtweisen der Eltern zu Wort kommen, sondern verdeutlicht auch, dass der Junge die vorgezeichnete Bahn nicht verlassen kann. Denn Armut wird an die nächste Generation vererbt, wenn keine anderen Erwachsenen da sind, die für Schutz und Sicherheit sorgen. Zain behandelt den Sohn von Rahil auf die gleiche Weise, wie er es von seiner Eltern gewohnt war. So wiederholt sich die Sozialisation.

Heidi Strobel

 

 

© Alamode
12+
Spielfilm

Capharnaüm - Libanon 2018, Regie: Nadine Labaki, Kinostart: 17.01.2019, FSK: ab 12, Empfehlung: ab 12 Jahren, Buch: Nadine Labaki, Jihad Hojeily, Michelle Kesrouani. Kamera: Christopher Aoun. Musik: Khaled Mouzanar. Schnitt: Konstantin Bock, Laure Gardette. Produktion: Mooz Films. Darsteller*innen: Zain al Rafeea (Zain), Yordanos Shiferaw (Rahil, Yonas’ Mutter), Boluwatife Treasure Bankole (Yonas), Kawthar al Haddad (Souad, Zains Mutter), Fadi Kamel Youssef (Selim, Zains Vater) u. a.

Capernaum – Stadt der Hoffnung - Capernaum – Stadt der Hoffnung - Capernaum – Stadt der Hoffnung - Capernaum – Stadt der Hoffnung - Capernaum – Stadt der Hoffnung - Capernaum – Stadt der Hoffnung -

Lieblingsfilme

» Junge Herzen

» Berlin Bytch Love

» Tonspuren

» Mein Sommer mit Irène

» Animalia

» How To Have Sex

» Dead Girls Dancing

» Bottoms

» Tori & Lokita

» Neue Geschichten vom Franz

» Kannawoniwasein!

» L‘amour du monde – Sehnsucht nach der Welt

» Deep Sea

» Water Lilies

» Ernest & Célestine: Die Reise ins Land der Musik

» Eva & Adam

» Besties

» 20.000 Arten von Bienen

» Spider-Man: Across the Spider-Verse

» Oink

» One in a Million

» Suzume

» Neneh Superstar

» The Ordinaries

» Sonne und Beton

» Die Fabelmans

» Wo ist Anne Frank

» Dieser eine Sommer

» Close

» Kalle Kosmonaut

» So damn easy going

» Guillermo del Toros Pinocchio

» Der Räuber Hotzenplotz

» Goodbye, Don Glees!

» Im Himmel ist auch Platz für Mäuse

» Zeiten des Umbruchs

» Der Drache meines Vaters

» Beautiful Beings

» Nachtwald

» Girl Gang

» Die Mucklas … und wie sie zu Pettersson und Findus kamen

» Die Schule der magischen Tiere 2

» Märzengrund

» Mein Lotta-Leben – Alles Tschaka mit Alpaka

» Sing a Bit of Harmony

» Belle

» Martin und das Geheimnis des Waldes

» Sun Children

» Die Odyssee

» Geschichten vom Franz

» Warum ich euch nicht in die Augen schauen kann

» Mein Vater, die Wurst

» Petite Maman - Als wir Kinder waren

» Rot

» Der Pfad

» Träume sind wie wilde Tiger

» Sami, Joe und ich

» Sing – Die Show deines Lebens

» Hilda und der Bergkönig

» Shaun das Schaf: Es ist ein Schaf entsprungen

» Klaus

» Das große Abenteuer des kleinen Vampir

» Lauras Stern

» Weihnachten im Zaubereulenwald

» Lene und die Geister des Waldes

» Jackie & Oopjen - Kunstdetektivinnen

» Ein Junge namens Weihnacht

» Elise und das vergessene Weihnachtsfest

» Platzspitzbaby – Meine Mutter, ihre Drogen und ich

» Die fabelhafte Reise der Marona

» Youth Unstoppable – Der Aufstieg der globalen Jugend-Klimabewegung

» Dear Future Children

» Madison – Ungebremste Girlpower

» Je suis Karl

» Bori

» Ein nasser Hund

» Herr Bachmann und seine Klasse

» Räuberhände

» Ein bisschen bleiben wir noch

» Tito und die Vögel

» Psychobitch

» CODA

» Mirai – Das Mädchen aus der Zukunft

» Die Adern der Welt

» Erdmännchen und Mondrakete

» Morgen gehört uns

» Sommer 85

» Catweazle

» Frühling in Paris

» Raya und der letzte Drache

» Yes, God, Yes – Böse Mädchen beichten nicht

» Soul

» Wolfwalkers

» Glitzer & Staub

» Wildherz – Auf der Reise zu mir selbst

» Hexen hexen (2020)

» Und morgen die ganze Welt

» Yakari – Der Kinofilm

» Lovecut

» Zombi Child

» Milla Meets Moses

» Enola Holmes

» Niemals Selten Manchmal Immer

» Jim Knopf und die Wilde 13

» Mignonnes

» Futur Drei

» Nackte Tiere

» Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess

» Binti - es gibt mich!

» Yalda

» Felix

» Kokon

» Max und die Wilde 7

» Into the Beat – Dein Herz tanzt

» Sunburned

» Meine Freundin Conni – Geheimnis um Kater Mau

» Weathering With You – Das Mädchen, das die Sonne berührte

» Nur die halbe Geschichte

» Monos – Zwischen Himmel und Hölle

» Away – Vom Finden des Glücks

» Zu weit weg

» Onward: Keine halben Sachen

» Little Women

» Romys Salon

» Crescendo

» Auerhaus

» Die Götter von Molenbeek – Aatos und die Welt

» Die Eiskönigin II

» Zoros Solo

» Das Geheimnis des grünen Hügels

» Nevrland

» Fritzi – Eine Wendewundergeschichte

» Systemsprenger

» Ein leichtes Mädchen

» Mein Lotta-Leben – Alles Bingo mit Flamingo!

» A Toy Story: Alles hört auf kein Kommando!

» Die drei !!!

» Don’t Give a Fox

» Stranger Things 3

» Roads

» Mister Link

» Die kleinen Hexenjäger

» Supa Modo

» mid90s

» Unheimlich perfekte Freunde

» Tito, der Professor und die Aliens

» Kommissar Gordon und Buffy

» The Hate U Give

» Ailos Reise

» Drachenzähmen leicht gemacht 3: Die geheime Welt

» Capernaum – Stadt der Hoffnung

» Yuli

» Checker Tobi und das Geheimnis unseres Planeten

» Der Junge muss an die frische Luft

» Hilda

» Mary Poppins’ Rückkehr

» Mellow Mud

» Astrid

» Sandstern

» Schwimmen

» Blue My Mind

» Girl

» Ava

» Pettersson und Findus – Findus zieht um

» Fannys Reise

» I Kill Giants

» Fridas Sommer

» 303

» Love, Simon

» Your Name

» Nicht ohne uns!