Fridas Sommer
Fridas Mutter ist an HIV gestorben. Ein Sommer des Abschieds und des Neubeginns.
So authentisch und einfühlsam kann von einem Kindheitstrauma nur erzählen, wer es selbst erlebt hat. Die spanische Regisseurin Carla Simón hat ihre Mutter verloren, als sie noch klein war. Damals, in den 1990er-Jahren, war die Krankheit HIV noch nicht soweit enthysterisiert, dass man mit den Folgen hätte umgehen können. Auch für Fridas Großeltern ist es ein Horror, der nicht benannt darf. Die eigene Tochter erlag diesem Virus – kein Wort dazu! Carla Simón erzählt nun von einem Sommer des vollkommenen Neubeginns, ohne zurück zu blicken. So wie an Silvester das Feuerwerk ein neues Jahr ankündigt, beginnt auch diese Geschichte einerseits mit einem Feuerwerk und einem Fest auf den Straßen Barcelonas, andererseits mit den geschäftigen Vorbereitungen für einen Umzug. Ganz unwirtlich nah und dunkel sind die ersten Szenen in Fridas Wohnung. Letzte Dinge werden zusammengepackt, die Erwachsenen beraten flüsternd. Es ist Fridas Abschied von ihrem Zuhause, den Großeltern und ihren Freunden.
Der „Sommer 1993“ („Estiu 1993“, so der Originaltitel) bedeutet für das Mädchen eine einschneidende Veränderung. Frida muss von nun an mit Onkel und Tante in deren Haus auf dem Land leben und ist plötzlich die große Schwester ihrer kleinen Cousine Anna. Erst allmählich erschließt sich ihr die Dramatik dieser Situation. Frida weiß natürlich, dass ihre Mutter tot ist. Aber was das emotional und ganz praktisch bedeutet, kann das Kind noch nicht abschätzen. „Warum weinst du nicht?“ fragt sie ein Junge beim Abschied.
So stolpern wir mit Frida in diese neue Herausforderung und sind zunächst verblüfft, wie stoisch sie alles erträgt, ohne eine offensichtliche emotionale Regung. Aber in ihr brodelt es. Das erkennen wir an ihrem Blick und an den zunehmenden Verweigerungen, sich in ihre neue Familie zu integrieren. Wenig hilfreich sind auch die Besuche der Großeltern, die Frida immer wieder aufs Neue an ihr altes Zuhause erinnern und die Versuche der Tante dadurch ins Leere laufen lassen, dem Kind eine neue Mutter zu sein. Tante und Onkel tun ihr Möglichstes, aber sie müssen dabei auch ihre kleine Tochter Anna im Blick behalten, die sich zunehmend zurückgesetzt fühlt.
Sommer wird stets mit einem Hochgefühl verbunden. Doch der Gleichklang von Sommer, Sonne und Spaß wird hier auf traurige Weise aufgehoben. Die Sonne brennt in dieser fantastischen katalanischen Landschaft vom Himmel und Frida spielt mit der kleine Cousine Mutter und Tochter. Das „So-tun-als-ob“-Spiel der Kinder sagt stets viel über die emotionalen Befindlichkeiten und unterbewussten Erinnerungen aus. Frida liegt im Liegestuhl, mit viel zu großen Cowboystiefeln an den Füßen, einer Federboa um die Schultern und eine Zigarette in der Hand. Sie lässt sich unzählige Male bitten, mit der kleinen Anna zu spielen, gibt die genervte Mutter, die sich dann doch herablässt, irgendwann ihr Kind wahrzunehmen. Aus der Ferne hören wir dazu Jazzmusik des Onkels aus seiner Werkstatt. Sie klingt wie eine Offenbarung – es könnte so schön werden, aber Frida ist noch nicht bereit, sich wirklich auf die neue Familie einzulassen. Im Gegenteil. Es entstehen Situationen, in denen wir Angst um Anna bekommen, wenn Frida sie mit in den Wald nimmt oder mit ihr im See herumtobt.
Die Gemütslage des Mädchens ist so einzigartig inszeniert, dass wir mit jeder Sekunde ihre Verzweiflung spüren und jeden ihrer Schritte nachvollziehen können. Eine fein beobachtete psychologische Beziehungskonstellation zwischen vier Menschen macht den Film zu einer spannenden Versuchsanordnung. Durchgehend erzählt aus Fridas Sicht, die sich nicht nur an ihre neue Familie gewöhnen muss, sondern auch in der Natur ungeahnte Herausforderungen findet. Der Lärm der Landschaft klingt anders als der Krach der Stadt und der Film hütet sich davor, diese Geräuschkulisse mit Musik zuzukleistern. Eine archaische Natur, Freiheit soweit die Füße tragen und Tante und Onkel, die ihr Bestes geben, um der Nichte den Neustart in ein neues Leben so leicht wie möglich zu gestalten. Das ist psychologisch äußerst klug konstruiert.
„Fridas Sommer“ hatte seine deutsche Premiere auf der Berlinale in der Sektion Generation Kplus, wo er den Jurypreis für den besten Erstlingsfilm und den großen Preis der Internationalen Jury erhielt. Neben drei Goyas in Spanien wurde er noch mit unzähligen weiteren Preisen bedacht. Ein Film, der im besten Sinne Generationen verbindet, der für Kinder gleichermaßen spannend ist wie für Erwachsene, weil er die sehr persönliche Sicht auf ein einschneidendes Ereignis aus der Kindheit der Regisseurin erzählt. „Fridas Sommer“ lässt sich auch als Zeitdokument einer verunsicherten Pathologiedebatte lesen, während der es zu Ausgrenzung und Diffamierungen kam, weil noch niemand genau wusste, wie mit AIDS umzugehen ist. In Fridas Fall bedeutet es, gemieden zu werden, obwohl sie gesund ist, und immer wieder Blutuntersuchungen über sich ergehen lassen zu müssen, weil man ihrer Gesundheit nicht traut. All dies kann das Mädchen überwinden und in einer fröhlichen und gleichzeitig hochemotionalen Szene es endlich schaffen, sich auf ihre neue Familie einzulassen. Aber ohne Tränen geht es diesmal nicht – die ersten Tränen der Trauer und sicherlich nicht die letzten Tränen des Glücks.
Katrin Hoffmann
Estiu 1993 - Spanien 2016, Regie: Carla Simón, Kinostart: 26.07.2018, FSK: ab 0, Empfehlung: ab 11 Jahren, Laufzeit: 96 Min., Buch: Carla Simón, Kamera: Santiago Racaj, Schnitt: Ana Pfaff, Didac Palou, Musik: Ernest Pipo, Pau Boïgues, Produktion: Valérie Delpierre, Verleih: Grandfilm, Besetzung: Laia Artigas, Paula Robles, Bruna Cusí, David Verdaguer, Fermi Reixach u. a.
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