Animalia
Nähe und Distanz, Halten und Loslassen. Eine Vater-Sohn-Geschichte, erzählt im Rahmen eines Coming-of-Age-Body-Horrors.
Émile steckt in einem Dazwischen. Er ist sechzehn, auf dem Weg, ein junger Mann zu werden, während in seinen weichen Gesichtszügen unter dunklen Locken noch das Kind von einst verborgen liegt. Eine verwirrende Zeit, vor allem, weil er zunehmend Veränderungen an sich feststellt, die niemand sehen soll und darf. Neuerdings wachsen ihm Krallen statt Fingernägeln, seine Wirbelsäule wölbt sich deutlich hervor und auf Rücken und Armen wuchern borstige Haare. Émile weiß, was das bedeutet: Er hat sich angesteckt. Seit geraumer Zeit schon grassiert eine Krankheit, die Menschen allmählich in tierähnliche Wesen verwandelt. Ihnen wachsen etwa Flügel oder Tentakel, ihre Haut wird ledern, pelzig oder schuppig, sie stelzen wie mannshohe Gottesanbeterinnen oder kriechen wie Reptilien. Diese Mutanten werden gejagt, interniert, in Krankenhäusern operiert oder ruhiggestellt, so wie Émiles Mutter Lana, die bereits mehr Tier als Mensch ist und nun in das „Lager Süd“ gebracht werden soll. Sein Vater François glaubt fest daran, dass Lana geheilt zu ihnen zurückkehren wird. Er will seiner Frau nahe sein, seine Liebe und Familie nicht aufgeben, und deshalb ziehen er und Émile in die südfranzösische Kleinstadt, wo die Infizierten in einem Hochsicherheitstrakt untergebracht werden. Doch dann hat der Transporter, in dem sich auch Lana befindet, einen Unfall. Einige der Kreaturen werden tot aus dem Fluss geborgen, andere können fliehen. Bald rückt das Militär an, eine Ausgangssperre droht und François hängt getragene T-Shirts in den Garten, um die eventuell noch lebende Lana mit vertrauten Gerüchen anzulocken.
Das Motiv der Verwandlung in ein tierähnliches Wesen und auch Émiles Metamorphose erinnern in wenigen, aber durchaus schmerzhaften Szenen an Körperhorror-Filme – wie etwa David Cronenbergs „Die Fliege“ (1986) oder auch an das Coming-of-Age-Drama „Blue My Mind“ (2017) der Schweizer Regisseurin Lisa Brühlmann, in der sich eine 15-Jährige mit Beginn ihrer Menstruation allmählich in eine Nixe verwandelt. Auch „Animalia“ lässt sich als ein Pubertätsgeschichte lesen, zumal Émile – einfühlsam gespielt von Paul Kircher, der 2023 in „Der Gymnasiast“ von Christophe Honoré zu sehen war – mit typischen Problemen zu kämpfen hat: der Umzug in eine andere Stadt, Konflikte mit dem Vater und Mitschüler*innen, eine erste Verliebtheit. Doch viel mehr noch erzählt Thomas Cailley in seinem zweiten Spielfilm eine berührende Vater-Sohn-Geschichte, die sich zwischen Horror, Fantasy und Abenteuer bewegt und dabei immer auch sozialkritische Töne anschlägt. Von Anfang an ringen Vater und Sohn miteinander – wer Recht hat oder der Stärkere ist, wo Grenzen überschritten oder Erwartungen gebrochen werden. Dass Émile ihn bei der Suche nach Lana im Sperrgebiet unterstützt, ist für François ausgemachte Sache. Dabei will Émile lieber zu einer Party. Die Tatsache, dass sein Vater auf eine gute Ernährung Wert legt, provoziert bei Émile nur den Griff in die Chipstüte. Immer wieder der Blick auf das Kind, das sich verändert hat, auf den Vater, der nicht mehr nur Vorbild ist. Und dann Momente voller Innigkeit und Verbundenheit, wenn sie bei einer nächtlichen Autofahrt durch den Wald Lanas Lieblingslied hören. Nähe und Distanz, Halten und Loslassen. Vor allem François muss begreifen, dass sein Sohn seinen eigenen Weg gehen will und muss.
Regisseur Thomas Cailley hat zusammen mit Pauline Munier die Arbeit am Drehbuch 2019, kurz vor Beginn der Corona-Pandemie, begonnen, die im Film immer ein wenig nachhallt. Sie haben ihre Geschichte in einer nicht allzu fernen Zukunft im ländlichen Frankreich angesiedelt. Da gibt es nichts Futuristisches. Die Krankheit und die mutierten Wesen brechen vielmehr in einen geregelten und vertrauten Alltag ein und zerstören das Gefühl von Sicherheit und Kontrolle. Plötzlich wird der Andere, der Unbekannte, der Fremde zu einer Bedrohung. Für die einen sind diese Mischwesen „Bestien“, die man wegsperren oder gar vernichten muss. Andere dagegen meinen, dass sie Mitgefühl verdienen. „Alle haben Angst“, sagt der Betreiber des kleinen Cafés einmal, in dem François arbeitet. „Es ist die Krankheit unserer Zeit.“ Nur einmal, ganz kurz, flackert in „Animalia“ die Vision einer Welt auf, in der Mensch, Tier und Natur im Einklang zusammenleben. Doch diese hat keinen Bestand. Und auch wenn das Ende ein wenig versöhnlich stimmen mag, bleibt doch die Frage: Warum gelingt uns kein friedliches Miteinander?
Kirsten Taylor
Le règne animal - Frankreich 2023, Regie: Thomas Cailley, Kinostart: 11.01.2024, FSK: ab 12, Empfehlung: ab 14 Jahren, Buch: Thomas Cailley, Pauline Munier. Kamera: David Cailley. Musik: Andrea Laszlo De Simone. Schnitt: Lilian Corbeille. Produzent: Pierre Guyard. Produktion: Nord-Ouest Films, Studiocanal, France 2 Cinéma, Artemis Production. Darsteller*innen: Romain Duris (François), Paul Kircher (Émile), Adèle Exarchopulos (Julia), Tom Mercier (Fix), Billie Blain (Nina) u. a
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