L‘amour du monde – Sehnsucht nach der Welt
Eine Jugendliche, die sich verloren fühlt, steht plötzlich vor der Chance, ihr Leben ganz anders zu gestalten – oder träumt zumindest davon.
Margaux ist zweifelsfrei ein besonderes Mädchen, und das nicht immer zu ihrem Vorteil. Ihre Eltern leben offenbar getrennt, die Mutter ist gerade weit weg in einem südlichen Land, der Vater hat am Genfer See eine neue Arbeitsstelle als Banker gefunden und wohnt mit der knapp 15-Jährigen vorübergehend in einem Hotel. Und er hat eine neue Freundin und wenig Feingespür für die Nöte seiner Tochter. Margaux leidet unter diesen Verhältnissen. Viel lieber würde sie wie ihre Freundinnen Urlaub im Süden machen und nette, wenn auch letztlich nichtssagende Selfies verschicken. Stattdessen hat sie in den Sommerferien ein Praktikum im örtlichen Kinderheim angetreten, ohne Empathie und ohne große Erwartungen, so als wäre ihr keine andere Wahl geblieben. In ihrer Freizeit besucht sie das Kino vor Ort und sieht sich den Filmklassiker „L‘Atlantide“ (1932) von Georg Wilhelm Pabst an, mit der verführerischen Brigitte Helm in der Hauptrolle. Nicht gerade das, was sich die meisten Jugendlichen ihres Alters mitten im Hochsommer üblicherweise ansehen. Im Hotelzimmer betrachtet sie sich selbstkritisch im Spiegel. Ob sie wohl einmal auch so verführerisch wirken könnte?
Im Kinderheim sind in den Ferien nur fünf Kinder verblieben, die offenbar niemanden haben, der sie zu sich holen möchte. So hofft auch die siebenjährige Halbwaise Juliette vergeblich darauf, dass ihr Vater endlich kommt. Solche Gefühle des Verlusts und der Trauer sind Margaux nicht fremd. Das verbindet beide trotz des Altersunterschieds. Ohne Erlaubnis nimmt Margaux die Kleine mit auf einen Spaziergang am Genfer See. Plötzlich ist Juliette verschwunden. Sie wird von dem Fischer Joël vor dem Ertrinken gerettet, der nach dem Tod seiner Mutter gerade aus Indonesien zurückgekehrt ist. Dort hatte er eine Tauchschule betrieben. Drei Seelenverwandte haben sich getroffen, so weit so gut. Margaux allerdings fühlt sich von dem jungen Mann angezogen und besucht ihn mehrfach, auch mit Juliette. Sie träumt sogar davon, mit ihm zurück nach Indonesien zu gehen, vielleicht sogar mit Juliette und ihm eine neue, intakte Familie zu gründen. Die Sehnsüchte und Hoffnungen der drei Figuren zerbrechen dann an der harten Realität. Und dennoch: Alle drei haben in dieser Zeit eines Sommers viel über sich selbst erfahren und sind dadurch ein Stück reifer geworden.
Jenna Hasse schließt mit ihrem ersten Spielfilm an ihre bisherigen Kurzfilme „En Août“ (2014) und „Soltar“ (2016) an, in denen die Hauptdarstellerin Clarisse Moussa ebenfalls mitwirkte. Die Figur der Margaux ist für die Filmemacherin eine Art Alter Ego, mit der sie viele eigene Kindheitserinnerungen und Familiengeschichten verarbeitet. Inspiriert zu ihrem Debütspielfilm fühlte sie sich allerdings von dem gleichnamigen Roman des französischsprachigen Schweizer Schriftstellers Charles-Ferdinand Ramuz aus dem Jahr 1925, dessen spätere Werke auch anderen schweizerischen Filmschaffenden wie Max Haufler oder Claude Goretta zur Vorlage dienten. Ein Zitat aus diesem Roman ist dem Film vorangestellt, mit den klaren und doch enigmatischen Sätzen: „Wie konnten wir nur so leben und mit so wenig zufrieden sein; wie konnten wir so klein leben, wo doch alles so groß ist und es so viel gibt?“ In diesem Roman geht es um die Verwirrung zwischen Bildern und der Realität, eine Thematik, die gut 100 Jahre später nichts von ihrer Aktualität verloren hat. Denn um die Bilder im Kopf, um das Wunschdenken der drei Protagonist*innen, um ihre Sehnsüchte und sich widersprechenden Gefühle geht es auch im Film von Jenna Hasse.
Zugleich erwecken lange ruhige Einstellungen, viele Großaufnahmen von Margaux und metaphorisch aufgeladene Bilder eines Sommeridylls am Genfer See, zu denen auch ein Reiher als Symbol einer umherirrenden Seele gehört, den Eindruck von äußerer Harmonie zu Zufriedenheit, der durch die Verhaltensweisen, Reaktionen und die Körpersprache von Margaux und Juliette ständig konterkariert und infrage gestellt wird. Schließlich geht es in diesem Coming-of-Age-Film ganz direkt um unerwartete Gefühlswelten einer Pubertierenden, um das Experimentieren mit neuen Rollen- und Verhaltensmustern, um Trauer und um Sehnsucht nach einem freien Leben jenseits vorgegebener und von außen bestimmter Strukturen.
Vielleicht werden sich einige bei diesem Film gelangweilt fühlen, vor allem, weil er so ruhig und mit nur wenigen Dialogsätzen erzählt wird und eher durch kontemplative Bilder und Metaphern sowie sanfte (Gitarren-)Musik als durch Handlung und Spannung wirkt. Selbst die Rettung von Juliette und die jeweiligen Reaktionen der Heimleitung auf das Fehlverhalten von Margaux werden nicht einmal ansatzweise dramatisiert und völlig beiläufig erzählt. Andere werden von dem Film, der so komplett anders inszeniert ist als nach gängigen Sehgewohnheiten und zudem mit einem offenen Ende aufwartet, hellauf begeistert sein. Das gilt vor allem dann, wenn sie bereit sind, sich auf die ambivalente Gefühlswelt insbesondere der beiden Mädchen einzulassen. Bei ähnlichen Verlusterfahrungen, unerfüllten Sehnsüchten und Gefühlswallungen könnte der Film zwar zum Trigger werden. Aber gerade der ruhige Erzählfluss und die vielen schönen Aufnahmen eines Bilderbuchsommers am Genfer See stehen dem entgegen. Mit anderen Worten: Dieser Film ist ein Geheimtipp für alle, die etwas Abwechslung im oft nach sehr ähnlichem Muster gestrickten Genre des Coming-of-Age-Films gut vertragen können.
Holger Twele
L‘amour du monde - Schweiz 2023, Regie: Jenna Hasse, Kinostart: 24.08.2023, FSK: ab 12, Empfehlung: ab 14 Jahren, Laufzeit: 76 Min. Buch: Jenna Hasse, Nicole Stankiewicz, Julien Bouissoux. Kamera: Valentina Provini. Musik: Cedric Blaser. Schnitt: Noémie Fy. Produktion: Langfilm, in Koproduktion mit Radio Télévision Suisse und Galão Com Açúcar Films. Verleih: mindjazz pictures. Darsteller*innen: Clarisse Moussa (Margaux), Esin Demircan (Juliette), Marc Oosterhoff (Joël), Adèle Vandroth (Adèle), Pierre Mifsud (Philippe) u. a.
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