Dieser eine Sommer
Im Kino: Nichts ist mehr so, wie es früher war, in dieser melancholisch-stimmigen Adaption des beliebten Comics „This One Summer“.
Der jährliche Sommerurlaub im Ferienhaus der Familie an der Südwestküste Frankreichs ist für Dune eine Zeit voller Rituale. Die bestialisch stinkende Fabrik, an der die Reise vorbeiführt, zählt ebenso dazu wie das Spielen in der alten Scheune – und vor allem das Wiedersehen mit Mathilde. Jedes Jahr sehen sich die beiden Mädchen dort und sind zu guten Freundinnen geworden. Doch in diesem Jahr ist etwas anders. Dune möchte nicht mehr so viel spielen wie zuvor. Dafür interessiert sie sich mehr für den coolen Verkäufer Elliott in dem kleinen Geschäft, der so lässig daherkommt und ein paar Jahre älter als sie ist. Mit wachsamen Augen beobachtet Dune jedes Detail an ihm. Mit Mathilde redet sie mittlerweile über Körbchengrößen und belauscht neugierig die Gespräche der Jugendlichen des Orts über Sex, ohne sich einen Reim darauf machen zu können, und die Scheune mit ihrem Lieblingsversteck wurde auch abgerissen. Ohnehin fühlt sich auch Dunes Familie anders an. Seit dem Urlaub vor zwei Jahren war ihre Mutter Sarah nicht mehr schwimmen und hat sich zurückgezogen. Mit Dunes Vater Thiago streitet sich Sarah nahezu ständig, so dass Dune manchmal am liebsten weglaufen würde. Es ist ein Sommer der großen Veränderungen, den der französische Film beschwört – ganz so wie die Graphic Novel „This One Summer“ von Mariko und Jillian Tamaki, auf der er beruht und die er erstaunlich getreu adaptiert.
Éric Lartigau, der mit „Verstehen Sie die Béliers?“ (2014) schon einmal aus Jugendperspektive erzählt hat, hat die Handlung von Kanada nach Frankreich verlegt, aber sonst alle zentralen Figurenkonstellationen und Themen beibehalten. Sogar das Casting orientiert sich eng am Aussehen und den Merkmalen der gezeichneten Vorbilder. Im Mittelpunkt stehen auch hier grundlegende Identitätsfragen in einer Phase der Veränderung. Für ein Kind ist Dune zu alt, für eine Jugendliche allerdings noch zu jung. Sie will nicht mehr Kind sein und fühlt sich schon als Jugendliche, wird aber noch wie ein Kind behandelt. Sie entwickelt ein Interesse für Sexualität, ohne recht zu wissen, was das bedeutet, und sucht nach kleinen Grenzerfahrungen. Mit Mathilde beginnt sie, einen Horrorfilm nach dem anderen auszuleihen und zu erproben, wie „erwachsen“ sie schon sind. Für echte Spannung sorgt bei den Mädchen unterdessen ein Drama unter den Jugendlichen. Dune und Mathilde bekommen mit, dass die Jugendliche Margaux schwanger ist und Elliott für den Vater hält. Dune gefällt dieser Gedanke gar nicht, sie hält Margaux für „eine Schlampe“, die Elliott nur ausnutzt, und will ihm deshalb helfen.
Die Ferien werden zu einem Berührungspunkt mit einer noch unbekannten Welt – ein klassisches Coming-of-Age-Thema, für das der Film stimmige Bilder findet. Manchmal scheint die Zeit stillzustehen, wenn Dune etwa auf dem Wasser im See liegt. Dann wieder durchbricht eine ausgelassene Feier der Jugendlichen, zu der sich Dune und Mathilde schmuggeln, die ruhigen und stillen Momente. Die Übergangsphase zwischen Kindheit und Jugend ist zudem von Widersprüchlichkeiten geprägt. Dune umarmt ihre Mutter – und sagt ihr, dass sie sie hasst. In einer anderen Szene wird sie von ihrem Vater müde vom Meer nach Hause getragen – obwohl sie dafür eigentlich schon zu groß und zu alt ist. Auch das ist ein zentrales Bild der Graphic Novel.
Überhaupt dreht sich vieles in „Dieser eine Sommer“ um Eltern und Kinder, um geborene, aber auch noch nicht geborene und verlorene, sowie ihre manchmal doch recht schwierigen Beziehungen. Obwohl – auch was die Kameraführung betrifft – konsequent aus der Perspektive von Dune und Mathilde erzählt, reißt der Film manchmal Probleme der Erwachsenen an, die aber dann ebenso stringent rätselhaft bleiben. Bisweilen ist dadurch nicht ganz klar, an welche Zielgruppe sich „Dieser eine Sommer“ eigentlich richten will. Es sind tiefgreifende Themen wie ungewollte Schwangerschaften oder eine Fehlgeburt, die nicht verkraftet wurde und zu einer schweren Depression geführt hat, die die Erwachsenen belasten. Mit dem Prozess des Erwachsenwerdens jedoch haben diese nichts zu tun und vielleicht wäre es eine kluge Entscheidung gewesen, gerade diesen Handlungsnebenstrang nicht aus dem Comic zu übernehmen, der dort ebenfalls schon deplatziert wirkte und nicht so recht in die Geschichte der beiden jungen Mädchen passen wollte. Mehr Anknüpfungspunkte für junge Zuschauer*innen hingegen bietet Dune, die hilflos die kriselnde Beziehung ihrer Eltern beobachtet. Dune fühlt sich allein und allein gelassen. Aber einfache Lösungen dafür gibt es auch keine.
Ein Hauch von Melancholie liegt über dem Film, weil hier offensichtlich langsam etwas zu Ende geht. Lartigau zeigt dies manchmal gerade im Slice-of-Life-Stil, mit kleinen, genauen Beobachtungen und einem Blick für Nebensächlichkeiten. Das ist (mit wenigen Ausnahmen) nicht spektakulär, aber sehr atmosphärisch – und damit ein schönes Begleitstück zur Graphic Novel.
Stefan Stiletto
Cet été-là - Frankreich 2022, Regie: Éric Lartigau, Kinostart: 09.02.2023, FSK: ab 12, Empfehlung: ab 13 Jahren, Laufzeit: 99 Min. Buch: Delphine Gleize, Éric Lartigau, nach der Graphic Novel „This One Summer“ von Mariko Tamaki und Jillian Tamaki. Kamera: Jacques Girault. Musik: Evenui Galperine, Sasha Galperine. Produktion: Alain Attal. Verleih: Studiocanal. Darsteller*innen: Rose Pou-Pellicer (Dune), Juliette Havelange (Mathilde), Marina Foïs (Sarah), Gael García Bernal (Thiago), Chiara Mastroianni (Louise) u. a.
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