20.000 Arten von Bienen
Ein achtjähriges Kind auf der Suche nach einem Namen und einer Identität, mit der es sich wirklich wohlfühlt.
„Wieso weißt Du, wer Du bist, und ich nicht?“ fragt die achtjährige Cocó ihre Mutter Ane. Das Thema Identität ist verwirrend für das Mädchen, das von ihrer Familie mit einem Jungennamen und männlichen Pronomen angesprochen wird. Das passt nicht, fühlt sich falsch und unangenehm an. So etwas wie Jungs- oder Mädchensachen gibt es nicht - so Anes Haltung ganz im Sinne des modernen Queerfeminismus. Dabei übersieht die cis Mutter jedoch, dass für Cocó – so ihr aktueller Spitzname – diese Unterscheidung eben doch bedeutsam ist. Weil es für sie gerade nicht egal ist, wie sie heißt und angesprochen wird.
„20.000 Arten von Bienen“ handelt vom Transformationsprozess einer Familie im Zuge einer Reise: Während Cocó mit ihrer Mutter und den beiden Geschwistern die Familie im Baskenland besucht, brechen verschiedene Generationenkonflikte auf, müssen Menschen sich neu (er)finden und lernen, einander so zu sehen, wie sie wirklich sind.
Regisseurin Estibaliz Urresola Solaguren erzählt ihren Film mehrheitlich aus der Perspektive Cocós, die sich später für den Namen Lucía entscheiden wird und deshalb im weiteren Text auch so genannt werden soll. „20.000 Arten von Bienen“ transportiert die Erfahrungswelt des kleinen Mädchens so nachvollziehbar, dass Lucía auch in Momenten des Widerstands niemals wie ein „schwieriges“, sondern ausschließlich wie ein schmerzhaft herausgefordertes Kind wirkt. So gelingt es der Filmemacherin, für ihre Heldin Empathie statt Mitleid zu erzeugen, das Publikum ihre Gefühle spüren, statt nur beobachten zu lassen.
Estibaliz Urresola Solaguren nutzt verschiedene Nebenstränge und -figuren, um die zentralen Themen ihrer Geschichte – Identität, Körper und Transformation – motivisch zu etablieren: Da ist die Frage nach Gott und seiner unfehlbaren Schöpfung, die sich verbindet mit der Rolle Anes als Künstlerin und Bildhauerin und sich wiederum im Kern auf die Macht des Individuums bezieht, sich selbst zu erschaffen und zu definieren. Da gibt es verschiedene Kämpfe der Emanzipation und Abgrenzung der Frauen unterschiedlicher Generationen, die im Grunde alle dafür kämpfen, als Menschen mit ihren Lebensentscheidungen akzeptiert und geliebt zu sein. Da sind Eidechsen, die ihren Schwanz abstoßen, wenn sie in Gefahr sind, und Larven, die sich in Bienen verwandeln. Da findet eine christliche Namenstaufe statt, in deren Kontext Lucía sich namenlos fühlt. Estibaliz Urresola Solaguren verbindet all diese Elemente kunstvoll zu einem Gesamtwerk, das seine Geschichte nicht nur mit Worten, sondern auch mit Bildern und Zwischentönen erzählt.
Eine nennenswerte Leistung des Films ist die Augenhöhe mit seiner Hauptfigur, nicht nur im übertragenen, sondern auch ganz praktischen Sinne durch die Kamera von Gina Ferrer, die sich gerne auf Lucías Erleben einer Situation fokussiert, während die eigentliche Handlung außerhalb des Bildes stattfindet. Durch diese optische wie dramaturgische Nähe zu dem 8-jährigen Mädchen spricht „20.000 Arten von Bienen“ ein Kinderpublikum an, das zur Identifikation mit Lucía eingeladen ist (Allerdings gibt es den rechtv langen Film bisher nur in einer untertitelten Fassung. Das spricht eher dafür, dass er für ältere Kinder geeignet ist). Dass der Film Transgeschlechtlichkeit nicht intellektuell verhandelt, sondern mit seiner filmischen Erzählweise erlebbar macht und über die oben erwähnten Motive veranschaulicht, schafft ebenso einen kindgerechten Zugang wie die Sprache selbst, die sich in der Mehrzahl der Szenen an der jungen Hauptfigur und somit auch deren Altersgenoss*innen orientiert.
Obwohl „20.000 Arten von Bienen“ kein klassischer Kinderfilm mit pädagogischer Ausrichtung ist, da beispielsweise auch die Hilflosigkeit der Mutter angesichts der Entwicklung ihres Kindes Raum findet, kann auch ein junges Publikum mit entsprechender Anleitung in diesem Film eindrücklich die Zuschreibung von Gender in Alltagssituationen beobachten. Es sind die vielen nahezu beiläufigen Kommentare und Dialoge, alltägliche Situationen und uns meist unbewusste soziale Kodizes, die Lucía wiederholt ein anderes Geschlecht zuschreiben und die „20.000 Arten von Bienen“ sichtbar macht.
Am Ende des Films besteht kein Zweifel mehr. Auch wenn die Familie in ihrem Prozess erst am Anfang steht, hat sich doch eines geändert: Die Eingangsszene spiegelnd, schaut Ane ins Gesicht ihres jüngsten Kindes und sieht … ihre Tochter.
Sophie Charlotte Rieger
Übrigens: „20.000 Arten von Bienen“ und andere tolle Filme sind Teil des Themendossiers „Gender & Lieben“. Werfen Sie doch mal einen Blick rein.
20.000 especies de abejas - Spanien 2023, Regie: Estibaliz Urresola Solaguren, Festivalstart: 18.02.2023, Kinostart: 29.06.2023, FSK: ab , Empfehlung: ab 10 Jahren, Laufzeit: 129 Min. Buch: Estibaliz Urresola Solaguren. Kamera: Gina Ferrer García. Schnitt: Raúl Barreras. Produktion: Gariza Films, Inicia Films, in Koproduktion mit Sirimiri Films. Verleih: DCM. Darsteller*innen: Sofía Otero (Cocó), Patricia López Arnaiz (Ane), Ane Gabarain (Lourdes), Itziar Lazkano (Lita), Martxelo Rubio (Gorka), Sara Cózar (Leire), Unax Hayden (Eneko) u. a.
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