Die Odyssee
Die berührende Geschichte einer Flucht zweier Kinder, malerisch animiert in Öl-auf-Glas-Technik.
„Ist das, weil wir die Kirschen geklaut haben?‟, fragt Adriel seine ältere Schwester Kyona ebenso ratlos wie schockiert. Nur kurz waren die beiden Kinder im Wald. Dann stieg plötzlich dicker Rauch über dem Dorf auf. Als sie nach Hause zurückkehren, herrscht Chaos im Dorf. Soldaten, Milizionäre, bewaffnete Bauern sind eingefallen und haben alles in Brand gesetzt, Menschen erschossen, marodiert. Nach diesem Vorfall ist für die Eltern von Kyona und Adriel klar, dass sie dort nicht länger bleiben können. Kurzerhand packen sie nur das Nötigste ein und fliehen.
So beginnt „Die Odyssee‟, die animierte Geschichte einer Flucht, die von Erlebnissen der Urgroßeltern der Regisseurin Florence Miailhe inspiriert ist und die nicht aktueller sein könnte. Dass der Film in einer fiktiven Welt spielt, ist dabei von Vorteil. Er lässt sich nicht einfach beiseite schieben, weil er sich auf ein konkretes Ereignis bezieht, sondern wirkt zeitlos und schmerzhaft universell. Hinzukommt der außergewöhnliche Look des Films. „Die Odyssee‟ wurde in der Öl-auf-Glas-Technik animiert – ein aufwändiger, malerischer Stil, der bislang nur in Kurzfilmen zur Anwendung kam und seine Wirkung vor allem in solchen Szenen entfaltet, in denen die Geschichte die Realität hinter sich lässt, in denen Formen zerfließen und sich neu zusammensetzen, sich die Farben befreien, abstrakte Bilder an die Stelle konkret umrissener Gegenstände und Figuren treten.
Dass der Film einerseits künstlerisch ist und an ein lebendig gewordenes Gemälde erinnert, andererseits aber auch zugänglich, nah und berührend, ist ein kleines Wunder. Seine Wirkung entfaltet er aber auch durch die Erzählperspektive. Mit Kyona und Adriel, die bald von ihrer Familie getrennt werden und sich alleine durchschlagen müssen, stehen zwei unschuldige junge Menschen im Mittelpunkt, die den Handlungen und Wünschen der Erwachsenen ausgeliefert sind.
Der Film folgt ihnen bei ihrer Flucht. Er erzählt, wie sie sich auf dubiose Schleuser einlassen und von Menschenhändlern verkauft werden, wie sie scheinbare Zuflucht in einer Pflegefamilie finden, wo man sie aber weniger als Individuen sondern vielmehr als Accessoires betrachtet, wie sie voneinander getrennt werden und sich schließlich in einem Zirkus wieder treffen. Beklemmende und befreiende Szenen gehen fließend ineinander über – und Kyona und Adriel lassen im Laufe dieser Reise ihre Kindheit nicht nur metaphorisch zurück.
Zahlreiche Märchenmotive durchziehen den Film, in dem monströs wirkende Menschen Kinder gefangen halten oder eine alte, an eine Hexe erinnernde Frau in einer Hütte in einem Birkenwald ein Mädchen bei sich überwintern lässt. All diese Figuren reichern den Film mit weiteren Bezügen und Assoziationen an, indem sie die unheimlichen, bedrohlichen Elemente vieler Märchen ausloten und für die Kinder real werden lassen.
„Die Odyssee‟ ist ein formal durch und durch außergewöhnlicher, wagemutiger und vielschichtiger Film, der zum einen zu einem anklagenden Rundumschlug ausholt und die Situation von Menschen auf der Flucht beleuchtet – und ganz konkret darüber erzählt, wie eine Flucht eine Kindheit verschlingt.
Stefan Stiletto
Übrigens: „Die Odyssee“ und andere tolle Filme sind Teil des Themendossiers „Migration“. Werfen Sie doch mal einen Blick rein.
La Traversée - Frankreich, Deutschland, Tschechische Republik 2021, Regie: Florence Miailhe, Kinostart: 28.04.2022, FSK: ab 12, Empfehlung: ab 12 Jahren, Laufzeit: 84 Min. Buch: Marie Desplechin, Florence Miailhe. Musik: Philipp E. Kümpel. Schnitt: Julie Dupré, Nassim Gordji Tehrani. Produzent*innen: Dora Benousilio, Luc Camilli. Produktion: Les Films de l’Arlequin, XBO Films. Verleih: Grandfilm.
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