Träume sind wie wilde Tiger
Im Kino: Bollywood-Schwung und eine gut gelaunte Freundschaftsgeschichte, in der Träume wichtiger sind als Wahrscheinlichkeiten.
Um es gleich zu sagen: „Träume sind wie wilde Tiger“ ist ein wohltuend vitaler, durchweg sehr unterhaltsamer Kinder- und Familienfilm, der gute Laune verbreitet. Vieles an der Geschichte kommt einem vertraut vor, man kennt es aus anderen Kinderfilmen, in denen es im weitesten Sinne um Mut, Freundschaft und Selbstfindung geht. Entsprechend leicht kann man sich in die Gefühlswelt des zwölfjährigen Ranji einfühlen, wenn er vehement darum kämpft, seinen großen Traum zu verwirklichen. Doch dabei geschieht etwas, was man nicht unbedingt erwarten konnte: Ranji beginnt zu singen und zu tanzen und legt mit großer Geste und Offenheit seine Gefühle dar – leidenschaftlich, unbändig, fröhlich oder auch tieftraurig: „Gibt es ein anderes Wort für ‚traurig‘? Ich sehe kaum noch Farben, alles was da ist, ist schwarzweiß.“
Dass Ranji sogar für einen Moment „seine“ Farben verliert, hört sich vielleicht merkwürdig an, ist aber grundlegend wichtig: Zu Beginn lebt der sympathische Junge noch im indischen Mumbai, und wenn er mit anderen Menschen durch die Straßen seiner Heimatstadt zieht, verstreut er singend die prächtigsten Farben – wie beim lebensfrohen Holi-Fest, das den Frühling begrüßt. Wem das alles übertrieben, vielleicht sogar kitschig erscheint, der kennt womöglich nicht das so genannte Bollywood-Kino, auf das sich „Träume sind wie wilde Tiger“ in großen Teilen seiner Bild- und Musiksprache bezieht. Vor allem in den Tanz- und Gesangsszenen bildet der Film stilecht die farbenprächtige „übergroße“ Traumwelt des Bollywood-Kinos nach, in der vieles, was man im echten Leben eher still bei sich behält, nach außen drängt: Liebe, Sehnsucht, Glück, aber eben auch Trauer, Verzweiflung und Ratlosigkeit-
Bollywood? Kennen denn gerade jüngere Filmfreund*innen diese besondere Art des indischen Kinos überhaupt? Die Bezeichnung klingt nach Hollywood, und tatsächlich ahmt sie diesen Begriff nach, indem sie ihn mit dem Namen der Stadt Bombay verschmilzt. Heute heißt die westindische Stadt Mumbai, hier ist eine riesige Filmindustrie beheimatet, die zahlreiche, oft hochmelodramatische Filme herstellt, geschmückt mit bunten Kostümen, ausufernden Musical-Elementen und aufwändig choreografierten Tänzen. Auch in Deutschland waren Bollywood-Filme eine Zeit lang sehr beliebt, inzwischen sind sie wieder ein wenig in Vergessenheit geraten.
Mit diesem Vorwissen stürzt man sich vielleicht ein wenig leichter in die Geschichte von Ranji, der ein großer Bollywood-Star werden möchte. Ausgerechnet als sein Idol Amir Roshan einen Filmpartner in Ranjis Alter sucht und dafür einen Aufruf im Internet startet, muss Ranji Mumbai verlassen: Er zieht mit seinen Eltern nach Deutschland. Zurück bleibt Ranjis geliebter Großvater, nicht aber sein Traum. Ranjis Vater ist Mathematiker und tritt eine gutbezahlte Stelle in Berlin an, doch so groß sein berufliches Fachwissen auch sein mag, sein Vorwissen über Deutschland ist ebenso bescheiden wie das seiner Ehefrau. Höflich, naiv und begeistert von allem, was „deutsch“ ist, bemühen sie sich um „Integration“, was zu amüsanten, teils satirischen Wortverdrehungen und Missverständnissen führt: „Große Freiheit, großes Gehäuse, große Aussicht ins Leben“, stellen sie strahlend fest, während Ranji sein eigenes Urteil über die schicke, aber seelenlose Hochhaus-Luxuswohnung hat: „Bunker.“
In seiner neuen Schule kämpft Ranji mit den erwartbaren Problemen, er wird von ein paar „Hirnies“ beleidigt und gemobbt, bis er nach vielen Umwegen eine Verbündete in Toni findet, die zunächst selbst zur renitenten Clique gehört und alles unternimmt, um Geld aufzutreiben. Das braucht sie, um ihre Eltern auf eine zweite Hochzeitsreise schicken zu können, bevor diese einander aufgeben und sich trennen. Ranjis von der Bande gestohlenes Handy bringt ihr viel Geld, macht ihr irgendwann aber auch ein schlechtes Gewissen. Bevor sie alle Daten löscht, entdeckt sie nämlich, durchaus beeindruckt, Ranjis talentiert-einfallsreiche Versuche für ein Casting-Video. Es ist amüsant zu verfolgen, wie sich Toni und Ranji gegenseitig nerven und „anmachen“, bis sie zu einer tragfähigen Freundschaft zusammenfinden. Dass dabei manches auf Unglaubwürdigkeit aufbaut, ist charmantes Konzept, eben wie aus einem Bollywood-Film: Da sitzt Ranji im neuen Nobelapartment in seinem unbehausten Zimmer, und ausgerechnet hier entdeckt er einen losen Ziegelstein in der Wand, den er entfernt und in Tonis Wohnung blickt – denn sie und ihr Vater, ein liebenswerter, aber recht versponnener Tüftler, der neue Musikinstrumente erfindet, sind seine Nachbarn.
Letzten Endes bringen genau solche „Unwahrscheinlichkeiten“ die Würze in Ranjis märchenhafte Geschichte, in der die Erwachsenen durchaus plakativ gezeichnet sind, ohne je plump karikiert und somit der Lächerlichkeit preisgegeben zu werden. Vor allem Ranjis und Tonis Eltern werden mit viel Witz und Charme gezeichnet, quasi als Antagonist*innen deutsch-indischer Möglichkeitsentwürfe, zu denen sich noch der grantige, latent fremdenfeindliche Hausmeister Schröbler sowie die vergeistigte Nachbarin Patrizia gesellen, die herrlich überdreht für indische Glaubenslehren inklusive Wiedergeburt schwärmt. Vor allem ist es Ranjis Opa, der dem Ganzen die Krone aufsetzt: Dessen Darsteller Irshad Panjatan spielte früher selbst in einigen Bollywood-Filmen, wurde vor allem aber als Indianer-Häuptling in der deutschen Komödie „Der Schuh des Manitu“ (Michael „Bully‟ Herbig, 2001) bekannt – was der Film wiederum als hübsche Steilvorlage nutzt und seinerseits genüsslich in die Handlung einbaut.
Jede dieser Figuren trägt dazu bei, dass Ranji und Toni nicht trotz, sondern gerade wegen aller Unwahrscheinlichkeiten den Weg nach Mumbai finden, mitten hinein ins Bollywood-Studio und ins ersehnte Casting. So enthebt sich der Film auf sympathische Weise der „Pflicht“, wirklichkeitstreu zu erzählen. Eher das Gegenteil ist der Fall: Leidenschaftlich preist er Kino als einen wunderbaren Ort (auch) für Träumer für Ranji, der seinem Vater einmal entgegenhält: „Ich habe einen Traum! Träume können wahr werden, sogar ganz ohne Mathematik!“
Horst Peter Koll
Träume sind wie wilde Tiger - Deutschland 2021, Regie: Lars Montag, Kinostart: 03.02.2022, FSK: ab 6, Empfehlung: ab 8 Jahren, Laufzeit: 96 Min. Buch: Murmel Clausen, Lars Montag, Sathyan Ramesh, Ellen Schmidt, nach einer Vorlage von Katharina Reschke. Kamera: Sonja Rom. Musik: Johannes Repka. Schnitt: David J. Rauschning. Produktion: NFP, Kinderkanal, rbb, NDR. Verleih: Wild Bunch. Darsteller*innen: Shan Robitzky (Ranji Ram), Annlis Krischke (Toni Nachtmann), Sushila Sara Mai (Kalinda Ram), Murali Perumal (Sunil Ram), Anne Ratte-Polle (Jeanette Nachtmann), Simon Schwarz (Frank Nachtmann), Irshad Panjatan (Daada Ram), Nina Petri (Patrizia), Herbert Knaup (Herr Schröbler), Adriana Altaras (Schulleiterin) u. a.
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