Das große Abenteuer des kleinen Vampir
Im Kino: Auch ein Vampirjunge will ein normales Leben in diesem fantasievollen Zeichentrickfilm nach dem Comic von Joann Sfar.
Vampire im Film gibt es fast so lange wie das Kino selbst. Im Lauf der Jahre haben die Blutsauger auf der Leinwand zwar viel von ihrem Schrecken verloren und wurden zu nicht weniger reizvollen, oft aber sogar reizenden Zeitgenossen. Dennoch blieben sie immer Außenseiter, ausgegrenzt vom Alltag, verbannt in die Nacht, in der „normale“ Menschen schlafen. In Kinder- und Jugendfilmen dienen Vampire immer mal wieder für märchenhaften Gruselspaß, nicht selten aber erzählen sie einfühlsam von seelischen Gefühlslagen, die junge Vampire mit Menschenkindern teilen: Gefühle der Einsamkeit, Unsicherheit oder der Andersartigkeit.
Genau davon handelt dieser Zeichentrickfilm, der ein mitreißendes Plädoyer für Toleranz ist. Doch es sei vorgewarnt: „Das große Abenteuer des kleinen Vampir“ ist charmant und witzig, abenteuerlich und fantasievoll, ausgelassen, frech, turbulent und rasant – er ist aber auch ein handfester Vampirfilm. Entsprechend bekommt man effektvolle Unterhaltung mit einer ordentlichen Portion Grusel serviert, was Kinder womöglich lieber nur in bestimmten Mengen erleben wollen. Das aber ist genau die Gratwanderung, die der Film ausreizt. Regisseur Joann Sfar ist ebenfalls Comic-Künstler, gefeiert für Comic-Bände wie „Die Katze des Rabbiners“ oder „Vampir“. Auch für Kinder zeichnet Sfar, wobei ihm mit „Desmodus, der Vampir“ ein Klassiker gelang. Die Bildergeschichten um den kleinen Vampir und seine Freund*innen sind ein Feuerwerk an ornamentaler Zeichenkunst und zugleich feinsinnige, philosophisch tiefgründige Annäherungen an das Leben – und den Tod.
Auch im Film ist es dem kleinen Vampir anfangs unendlich langweilig. „Ich bin seit 300 Jahren zehn Jahre alt“, jammert er, „und seit 300 Jahren langweile ich mich zu Tode!“ Mit seiner schönen untoten Mutter Pandora wohnt er im schlossartigen Haus eines Geisterkapitäns, der sie einst mit seinem fliegenden Segelschiff vor der Rache eines fiesen Prinzen bewahrte, womit er Pandoras Herz eroberte und für ihren Sohn zum fürsorglichen Ersatzvater wurde. Seitdem geht er allen Gefahren aus dem Weg und lebt mit seiner ungewöhnlichen Familie sowie allerlei Monstern und Gruselgetier unter einer Art Sicherheitsglocke. Doch der kleine Vampir will raus, er will gleichaltrige Kinder kennenlernen und sogar zur Schule gehen. Bei seinen unerlaubten Ausflügen lernen er und seine rote Geisterbulldogge Phantomato den Waisenjungen Michel kennen. Ihre schnell wachsende Freundschaft bleibt nicht unentdeckt – auch nicht vom immer noch rachedurstigen Prinzen Gibbus.
Mit einmaligem Sehen lässt sich nicht annähernd erfassen, was dieser überbordende Film an hübschen Details, Anspielungen (etwa auf Roger Cormans „klassische“ Horrorfilme aus den 1960er-Jahren) und Doppelbödigkeiten bereithält, Der „wilde“ Zeichentrickstil lässt alles zu und macht alles möglich zwischen zarter Poesie und handfestem Grusel. Im guten Sinn rücksichtslos beschreibt er, wie Kinder, gleich ob lebendig oder untot, die Welt mit ihren eigenen Augen entdecken und dabei auch vermeintlich schwere Themen wie Tod und Trauer erfassen und sogar meistern können.
Horst Peter Koll
Petit Vampire - Frankreich, Belgie 2020, Regie: Joann Sfar, Kinostart: 09.12.2021, FSK: ab 6, Empfehlung: ab 8 Jahren, Laufzeit: 82 Min. Buch: Joann Sfar, Sandrina Jardel, nach dem Comic „Desmodus, der Vampir“ von Joann Sfar. Kamera: Hugues Espinasse. Musik: Olivier Daviaud. Schnitt: Benjamin Massoubre, Christophe Pinel. Produktion: Joann Sfar’s Magical Society/StudioCanal/Panache Prod./Proximus/Compagnie Cinématographique/Franc 3 Cinéma/RTBF. Verleih: Studiocanal.
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