Ein Junge namens Weihnacht
Im Kino: Eine „Origin Story‟ des Weihnachtsmanns, inszeniert als fabulierfreudiger Fantasy-Märchenfilm.
Jede*r weiß, wie der Weihnachtsmann aussieht: Er ist ein großer Mann mit rundem Gesicht, rosigen Wangen und wallendem, schneeweißem Bart, er trägt trittfeste Winterstiefel, einen roten Mantel, der am Bauch mit einer dicken Schnalle zusammengehalten wird, und auf seinem Kopf sitzt eine rote Zipfelmütze mit weißem Bommel. Oft heißt es, dieses Aussehen hätte die Werbung für eine berühmte Limonade erfunden, glaubwürdiger aber ist, dass der sagenumwobene Bischof Nikolaus als Vorbild diente: Der lebte vor 1600 Jahren, machte den Menschen heimlich Geschenke und trug eine rote Bischofsrobe. Auch im Kino gibt es viele und vielfältige Geschichten um den Weihnachtsmann (auch als Santa Claus), und inzwischen wurde sogar schon darüber fantasiert, wie er auch aussehen könnte – etwa in „Als der Weihnachtsmann vom Himmel fiel“ (Oliver Dieckmann, 2011) oder im Animationsfilm „Klaus“ (Sergio Pablos, 2019). Nun gibt es eine weitere Lesart über sein Aussehen, verbunden mit der Frage, wie der Weihnachtsmann überhaupt zu seinem Amt kam.
Diese Geschichte beginnt so: Griesgrämig stapft eine resolute alte Dame durch die abendlichen Straßen einer verschneiten, festlich geschmückten Stadt. „Frohe Weihnachten!“, ruft ihr jemand zu, und sie grantelt zurück: „Ich arbeite dran.“ Ausgerechnet sie soll am Vorweihnachtsabend auf ihre Neffen und Nichten aufpassen, drei Geschwisterkinder, die um den Verlust ihrer Mutter trauern. Tante Ruth verspricht, ihnen den Abend mit einer herzzerreißenden Geschichte zu verschönern, was der Jüngste ernst und mit kindlicher Aufrichtigkeit kommentiert: „Mein Herz ist schon zerbrochen, aber ich liebe Mama auch mit zerbrochenen Teilen.“ Es gibt also viel, woran Tante Ruth arbeiten muss, und entsprechend ernst nimmt sie ihre Aufgabe.
Die Geschichte, die sie den Kindern erzählt, ist so abenteuerlich wie fantastisch: In einem märchenhaften, tief verschneiten Finnland wohnt der elfjährige Halbwaise Nikolas mit seinem Vater, einem Holzfäller, der sie nur mit Mühe durch den Winter bringt. Als der König seine Untertanen aufruft, ihm ein Zeichen der Hoffnung auf bessere Zeiten zu bringen, macht sich der Vater auf, um das sagenumwobene Wichtelgrund zu finden. Nikolas bleibt zurück, zusammen mit seiner Maus Miika, einer Mütze, die ihm seine Mutter hinterließ, einer Rübenpuppe – und seiner hässlichen, eigensüchtigen Tante Carlotta, die ihm das Leben schwer macht. Da entdeckt er in der Mütze eine Landkarte: Seine Mutter weist ihm den Weg nach Wichtelgrund! Mutig, oft aber auch zweifelnd folgt Nikolas seinem Vater, bis er in der eisigen Kälte fast aufgibt. Doch gerade jetzt erweist sich das Unmögliche als die eine Möglichkeit, die man noch nicht versucht hat. So wie Miika zu sprechen beginnt, so sieht Nikolas das, woran er glaubt: das magische Wichtelgrund.
Immer wieder unterbrechen die drei kleinen Zuhörer*innen ihre Tante, anfangs noch skeptisch, später immer aufgeregter angesichts der spannenden Entwicklungen. Dann kehrt die Handlung für kurze Momente ins Kinderzimmer der trauernden Geschwister zurück, die zunehmend wissbegieriger fragen, warum Nikolas von seiner Mutter „Weihnacht“ genannt wurde, warum man in Wichtelgrund jede Fröhlichkeit verloren hat und welche Rolle eigentlich eine rätselhafte Wahrheitselfe spielt. Und Tante Ruth erzählt weiter, wobei der fabulierfreudige Fantasy-Märchenfilm zur „Geschichte in der Geschichte in der Geschichte“ wird. Darin erfährt Nikolas mehr über seine Mutter, aber auch über seine hartherzige Tante, die keine Wünsche und Träume zulassen, sondern sich den Gegebenheiten anpassen will. Vor allem muss Nikolas sich mit seinem Vater auseinandersetzen: Auf der Suche nach Wohlstand und Reichtum droht er, gierig und kaltherzig zu werden.
Der Film basiert auf einem Roman des englischen Erfolgsautors Matt Haig (zu dem es noch zwei ähnlich attraktive Fortsetzungen gibt). Entsprechend erinnert auch er kaum an die christlichen Ursprünge des Weihnachtsfests, immerhin aber an (nicht nur) weihnachtliche Werte wie Herzensgüte und Mitmenschlichkeit. Mit aufwändigen Effekten, schönen Landschaftsbildern, hübschen Gags und einer symphonischen Musik à la Harry Potter schmückt er die Geschichte um Trost, Fröhlichkeit und Lebensmut und preist Weihnachten als den allerbesten Tag der Welt. Das mag man mitunter als kitschig empfinden, doch die Konsequenz, mit der hier eine magische Wunderwelt in Szene gesetzt wird, sorgt nicht nur für einen Augenschmaus, sondern ist auch ein charmanter Appell an die Kraft des Erzählens in vermeintlich dunklen Zeiten. Und nachdem Nikolas seinen Platz im Leben gefunden hat, weiß man vielleicht sogar, wie der Weihnachtsmann als Junge ausgesehen hat.
Horst Peter Koll
A Boy Called Christmas - Großbritannien 2021, Regie: Gil Kenan, Kinostart: 18.11.2021, FSK: ab 6, Empfehlung: ab 8 Jahren, Laufzeit: 104 Min. Buch: Ol Parker, Gil Kenan, nach dem gleichnamigen Roman von Matt Haig. Kamera: Zac Nicholson. Musik: Dario Marianelli. Schnitt: Richard Ketteridge, Peter Lambert. Produktion: StudioCanal, Netflix, Canal+, Ciné+, Blueprint Pictures. Verleih: Studiocanal. Darsteller*innen: Henry Lawfull (Nikolas), Jim Broadbent (Vodol), Sally Hawkins (Something), Maggie Smith (Tante Ruth), Toby Jones (Topo), Kristen Wiig (Tante Carlotta), Zoe Colletti (Wahrheitselfe) u. a.
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