Sun Children
Straßenkinder suchen im neuen Film von Majid Majidi nach einem Schatz – im Kanalsystem unter einer Schule.
Die Schicksale von Kindern lagen dem iranischen Filmemacher Majid Majidi schon immer besonders am Herzen. International erfolgreich waren bereits seine Filme „Kinder des Himmels“ (1997) über zwei Geschwister, die zusammen nur ein einziges paar Schuhe besitzen und sich dieses teilen müssen, und „Die Farben des Paradieses“ (1999) über einen blinden Jungen, dessen Vater sich über die Behinderung seines Sohnes schämt. Seinen neuen Film „Sun Children“, der 2020 im Wettbewerb der Internationalen Filmfestspiele von Venedig lief, hat er allen Straßenkindern der Welt gewidmet, von denen allein etwa 152 Mio. unter gefährlichen Bedingungen arbeiten müssen. Damit sind nicht nur die Kinder gemeint, die überhaupt kein Zuhause mehr haben, die unter sklavenähnlichen Bedingungen wie Leibeigene gehalten werden oder die ihre Gesundheit täglich in Minen oder Chemiefabriken riskieren müssen. Es handelt sich auch um Kinder wie den zwölfjährigen Ali, dessen alleinerziehende Mutter schwer erkrankt ist, oder Flüchtlingskinder aus Afghanistan wie Zahra und ihren Bruder Abolfazi, die sich durch den Verkauf von Tand auf der Straße Geld verdienen müssen. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie ihrer von den UN verbrieften Kinderrechte auf körperliche Unversehrtheit und auf Bildung beraubt wurden. Um solche Kinder, die damit ihre Entwicklungsmöglichkeiten verpassen, geht es in diesem Film.
Ali und seine Clique halten sich mit Gelegenheitsjobs in einer Autowerkstatt über Wasser. Etwas lukrativer allerdings sind kleine Straftaten, etwa das Abmontieren hochwertiger Autoreifen in einer Tiefgarage im Auftrag von Hintermännern des organisierten Verbrechens. Als die Kinder bei einer dieser Diebestouren beinahe geschnappt werden, befürchtet Ali eine harte Strafe seitens des Gangsterbosses. Stattdessen erhält er einen neuen Auftrag. Zusammen mit den drei anderen Jungen seiner Clique soll er sich in der Sun School anmelden, einer gemeinnützigen Schule, die vor allem Straßenkindern eine Chance auf Schulbildung gibt. Denn die Abwasserschächte unter der Schule führen zu einem geheimnisvollen Schatz, den Ali auf diese Weise heimlich finden und bergen soll. Dann wäre er in Zukunft aller finanzieller Sorgen enthoben und könnte seine Mutter aus dem Krankenhaus holen. Mit etwas List und großer Überzeugungskraft gelingt es den Kindern tatsächlich, einen engagierten Lehrer zu gewinnen, der sich gegenüber der Schulleitung für ihre Aufnahme einsetzt. Von nun an drücken die Kinder abwechselnd die Schulbank und graben im Keller der Schule unter Lebensgefahr einen Tunnel, der sie dem erhofften Schatz näher bringen soll. Dabei haben sie zahlreiche Hindernisse zu überwinden und arbeiten schließlich sogar mit schwerem Gerät, das ihnen der Gangsterboss zur Verfügung stellt. Je näher sie sich am Ziel glauben, desto mehr gerät insbesondere Ali in einen Gewissenskonflikt. Aufgrund von Mietrückständen soll die Schule geschlossen werden und Ali ahnt plötzlich, wie wichtig diese Schule für die Kinder ist – ein etwas anderer Schatz, den es nicht erst zu bergen, sondern zu verteidigen gilt. Zudem verdankt Ali dem Lehrer die nicht ganz gesetzeskonforme Befreiung seiner Freundin Zahra aus dem Gefängnis, in dem sie von den Wärtern gedemütigt und wie eine Verbrecherin behandelt wurde. Schließlich überschlagen sich die Ereignisse und Ali kämpft sich ganz allein durch einen Abwasserkanal.
Diese Szenen im Tunnel und in den Kanälen wurden natürlich im Studio in einem aufwändig gebauten Set gefilmt, wobei die Kamera und mit ihr die Kinder möglichst viel Bewegungsfreiheit hatten. Sie vermitteln daher einen Hauch von Abenteuer und echter Schatzsuche. Und doch haben sie zugleich etwas Klaustrophobisches an sich wie in einem großen Drama über einen Ausbruchs- oder Befreiungsversuch. Ansonsten wurde der Film weitgehend an Originalschauplätzen gedreht und weckt an manchen Stellen eher den Eindruck eines Dokumentar- als eines Spielfilms. Einige der Kinderdarsteller*innen sind tatsächlich Straßenkinder und Shamila in der Rolle von Zahra sowie ihr Bruder sind auch im realen Leben afghanische Einwanderer*innen. Besonders schwierig sowohl aufgrund der Vorschriften als auch wegen der emotionalen Stresssituation gestalteten sich die Dreharbeiten in der U-Bahn, die vollkommen authentisch sind, also im Normalbetrieb ohne Absperrungen entstanden. Rouhollah Zamani als Ali mit Leib und Seele wurde in Venedig sogar mit dem Marcello Mastroianni Award für den besten jungen Schauspieler ausgezeichnet. Neben seinem Anliegen, für die Rechte der Kinder einzutreten und den unverzichtbaren Wert von Schulbildung zu unterstreichen, war Majid Majidi trotz des offenen Filmendes sehr daran gelegen, die Resilienz und den Mut dieser Kinder zu unterstreichen. Zugleich wollte er das Publikum unterhalten – und all das ist ihm gut gelungen.
Holger Twele
Diese Kritik erschien anlässlich der Aufführung beim Filmfestival Schlingel 2021.
Khorshid - Iran 2020, Regie: Majid Majidi, Festivalstart: 15.10.2021, Kinostart: 05.05.2022, FSK: ab 12, Empfehlung: ab 12 Jahren, Laufzeit: 99 Min. Buch: Majid Majidi, Nima Javidi. Kamera: Hooman Behmanesh. Musik: Ramin Kousha. Schnitt: Hassan Hassandoust. Produktion: Majid Majidi, Amir Banan. Verleih: MFA+. Darsteller*innen: Rouhollah Zamani (Ali), Mahdi Mousavi (Mamad), Mani Ghafouri (Reza), Shamila Shirzad (Zahra), Abolfazi Shirzad (Abolfazi) u. a.
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