Tito und die Vögel
Auf MUBI: Ein ästhetisch herausragender Animationsfilm aus Brasilien über lähmende Ängste und einen mutigen Jungen.
Diese Welt ist auch visuell in Aufruhr. Das Bild dreht und wandelt sich. Licht, Schatten, Farbpunkte, alles in ständig wechselnden Fluchtpunkten. Die Hintergründe sind wie Ölgemälde, expressionistische Motive, die nur ungefähr, aber doch stets genau erkennbar, Realität wiedergeben, bevor im nächsten Perspektivwechsel wieder ein Sturz durchs Bild bevorsteht.
Seine Figuren aber setzt „Tito und die Vögel“ mit feinem Stift gezeichnet vor diese wilden Szenerien, in denen zuweilen sogar die Farbe physisch noch hervorgehoben scheint, die Pinselstriche geradezu fühlbar werden. Alle Menschen in diesem Film sind klar abgegrenzt, flächig gezeichnet, mit großen Köpfen, großen Augen. Wenn aber die Epidemie der Angst sie packt, verkrampfen sich die Körper, bevor sie zu einem großen steinähnlichen Gebilde mutieren, aus dem nur ein Paar riesiger Augen hervorstarrt.
Der zehnjährige Tito vermutet, dass die Vögel ihnen helfen könnten, diese Krankheit zu besiegen. Sein Vater hatte vor einigen Jahren eine Maschine gebaut, mit der er hoffte, die Sprache der Vögel verstehen zu können – aber wegen eines Unfalls mit genau diesem Gerät, bei dem Tito verletzt wurde, hatte sich Titos Mutter von ihm getrennt, und nun ist er sogar verschwunden. Also versucht Tito mit seinen Freund*innen Buiú und Sarah, die Erfindung des Vaters nachzubauen – und dabei stoßen sie auf einige unerwartete Verbündete.
„Tito und die Vögel“ beschreibt Angst als ansteckende Krankheit und impliziert zugleich einen ganz bestimmten Mechanismus ihrer Verbreitung: Angetrieben wird sie vom TV-Moderator Alaor Souza, einer Figur à la Tucker Carlson, dem Prediger von Furcht und Bedrohung im US-Sender Fox-News. Ein sich selbst als besorgter Bürger darstellender Superreicher, der immerzu auf den Bildschirmen die Ängste erst recht schürt – und zugleich gut an Wohnungen verdient, die gewissermaßen als Super-Gated Community durch Tore und eine Kuppel ganz und gar von der Außenwelt abgeschottet sind.
Die Regisseure Gabriel Bitar, André Catoto und Gustavo Steinberg inszenieren damit auch sehr deutlich einen in zwei Richtungen ausformulierten politischen Kommentar: Zum einen über die Angst als Mittel der Politik, die die Menschen lähmt und vereinzelt, und zum anderen darüber, dass diese Angst und diese Politik stets Mittel der Reichen und Mächtigen sind, um noch mehr Einfluss und Besitz anzuhäufen.
Die drei Protagonist*innen Tito, Buiú und Sarah gehören jedenfalls, das markiert der Film deutlich, nicht zu jenen sozialen Gruppen, die von der Angst, von der Krankheit profitieren. Dass sie ihr nicht (oder jedenfalls lange nicht) verfallen hat zum Teil mit ihrer kindlichen Unschuld zu tun, zum Teil mit ihrem Willen, sich von der Welt nicht unterkriegen zu lassen und ganz bewusst vor nichts Angst zu haben.
Wäre der Film 2020 entstanden, läse sich die seltsame Krankheit, die vor allem die Erwachsenen erstarren lässt, womöglich ganz anders, ambivalenter – man wüsste nicht, ob als politischer Kommentar eher zur Angst vor der Krankheit oder eher zur realen Corona-Pandemie, die ja nun gerade auch Brasilien, die Heimat der Filmemacher*innen, hart getroffen hat. Aber auch ohne Corona ist der Bezug auf die politische Situation im Land deutlich genug.
Freilich ist „Tito und die Vögel“ nicht primär ein aktuelles politisches Statement, sondern will vor allem etwas dazu sagen, wie wir miteinander und mit unseren Ängsten umgehen. Denn Heilung und Rettung, soviel darf man verraten, wird am Ende, nach einigen auch fantastischen Wendungen, tatsächlich durch die Vögel vermittelt, kann und muss dann aber eben doch von den Menschen ganz und gar selbst ausgelöst und getragen werden.
Da kommt dann auch wieder die Bilderwelt des Films ins Spiel, die im Vergleich zu den fein gezeichneten Figuren so übermächtig wirkende Welt: So verwirrend und überwältigend sie auch sein mag, so grob die Pinselstriche der Welt sind im Verhältnis zu den dürren Formen der Menschen: Man sieht ihnen doch stets an, dass sie gemacht sind, nicht naturgegeben. Im direkten Miteinander jedenfalls ist immer Raum für Feinheiten, Berührung und die Befreiung von Angst.
Rochus Wolff
Tito e os Pássaros - Brasilien 2018, Regie: Gabriel Bitar, André Catoto, Gustavo Steinberg, Homevideostart: 20.08.2021, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 10 Jahren, Laufzeit: 73 Min. Buch: Gustavo Steinberg, Eduardo Benaim. Animation: Chico Bella, Vini Wolf. Musik: Gustavo Kurlat, Ruben Feffer. Schnitt: Vânia Debs, Thiago Ozelami. Produktion: Daniel Greco, Felipe Sabino, Gustavo Steinberg. Anbieter: MUBI
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