Räuberhände
Im Kino: Janik und Samuel reisen nach dem Abi in die Türkei. Eine Freundschaft und ein Streit, eine Flucht und eine Suche.
Janik und Samuel könnten kaum verschiedener sein, doch gerade deshalb scheint ihre Freundschaft tief und unverbrüchlich. Sie stehen kurz vor dem Abitur, von zuhause sind sie ausgezogen und genießen ihr gemeinsames selbstbestimmtes Leben in einer umgebauten Gartenlaube. Regelmäßig führen ihre Wege zurück nach Hause, sei es auch nur, um kurz Hallo zu sagen, gemeinsam zu Abend zu essen oder um den Kühlschrank zu plündern. Dabei könnten ihre Elternhäuser auf verschiedenen Planeten stehen: Samuel schätzt die bürgerliche Ordnung, die einvernehmlichen Gespräche in Janiks Bilderbuch-Familie, nicht zuletzt, weil er selbst aus zerrütteten Verhältnissen stammt. Seine Mutter Irene ist alkoholabhängig, lebt unter nahezu asozialen Bedingungen, sein Vater verschwand nach seiner Geburt vor 20 Jahren, wahrscheinlich für immer, zurück in seine türkische Heimat. Janik hingegen fühlt sich von Irene seltsam angezogen. Während er seine Eltern oft provoziert und herausfordert, obwohl er ihre Loyalität braucht, ist da etwas an der gebrochenen, schwachen und desillusionierten Irene, was ihn fasziniert und auf fatale Weise in Bann schlägt.
Janik und Samuel haben einen gemeinsamen Plan: Nach dem Abi wollen sie nach Istanbul, darauf haben sie gespart, und dabei lassen sie sich von niemandem reinquatschen, auch nicht von Janiks Freundin. Voller Vorfreude schlagen sie immer mehr über die Stränge, feiern exzessiv, trinken viel Alkohol, werfen Drogen ein. Bei einem Kirmesbesuch geschieht es: Komplett zugedröhnt lässt sich Janik von Irene verführen. Dass Samuel sie beim Sex erwischt, ist ein Schock. Voller Gewissensbisse sucht Janik das klärende Gespräch, das aber verweigert ihm Samuel. Stattdessen steht Samuel unversehens vor ihm und fordert: „Geh’ nach Hause packen, wir lassen den ganzen Scheiß hinter uns.“ Im nächsten Bild sind sie bereits in Istanbul, da ist der Film schon 34 Minuten alt.
Die titelgebenden „Räuberhände“ gehören Samuel. Im Film werden sie nicht weiter beachtet, im Roman aber beschreibt Janik als Ich-Erzähler aufmerksam diese „verräterischen“ Hände: Samuels Finger seien zerbissen, die Haut stehe in kleinen Fetzen um die offen liegenden Nervenenden. „Wahrscheinlich ist es die Stelle, an der seine Ordnung am auffälligsten bröckelt.“ Nicht nur in solch feinsinniger Beschreibung scheint Finn-Ole Heinrichs Erzählweise filmischer als die Verfilmung selbst. Souverän springt sein Erstlingsroman aus dem Jahr 2007 durch Zeit und Raum, arbeitet mit Ellipsen, Parallelmontagen, Vor- und Rückblenden, um wie ein Reepschläger die drei zentralen Erzählstränge untrennbar miteinander zu verzwirbeln. Irenes Geschichte wird dabei an den oberen Seitenrand des Buchs verbannt, in kleinerer Schrift, in eckigen Klammern, wie eine Fußnote, die sie doch nicht ist.
Doch natürlich ist auch der brillant inszenierte und gespielte Film, an dessen Drehbuch Heinrich mitgeschrieben hat, ausgesprochen „filmisch“. Nur geht er andere, eigene erzählerische Wege. Indem er die literarisch dekonstruierten Ereignisse nahezu chronologisch ordnet, ist er zwar leichter zu überschauen, damit aber nicht einen Deut weniger intensiv, dramatisch und spannend. Immer wieder geht es um das fragile Prinzip „Ordnung“, darum, wie etwas vermeintlich Ordentliches unversehens in bestürzende Unordnung geraten kann und wie ein ungewollt-gewollter Fehltritt alle Gewissheiten grundlegend in Frage stellt. Wie Samuels Räuberhände im Roman legt im Film die grandiose Kameraarbeit von Judith Kaufmann schmerzhaft und beklemmend die Nervenenden aller Beteiligten offen. Wortwörtlich kann die Kamera aus dem Rahmen fallen, dann rennt sie, aus der Hand filmend, hinter Janik und Samuel her, bevor sie unversehens intime Ruhe schafft und die Freunde in ihrer ganzen Erschöpfung und lähmenden Ratlosigkeit erfasst – Momente im Istanbuler Hotel, wo Samuel erkrankt, Janik ihn pflegt und seine Arme um ihn legt, in zärtlicher Zuneigung, gewiss auch in stillem körperlichem Begehren; Momente schließlich am Meer, nach einer Nacht in einem billig erworbenen Bus, der zwar keine heimelige Gartenlaube, immerhin aber eine (be-)schützende Rostlaube ist.
Finn-Ole Heinrich und Regisseur İlker Çatak, der zuvor schon die Verfilmung des Romans „Es war einmal Indianerland“ (2017) von Nils Mohl meisterte, gelang ein beglückender Freundschaftsfilm. Fast 14 Jahre nach Erscheinen des Romans tauchen sie mit ihrem Film tief in ein Lebensgefühl und füllen die Schlagworte Freiheit, Heimat und Identität mit ihrer ganz und gar gegenwärtigen Suche nach Sinn und Orientierung. Dabei zerplatzen Träume mit einem überlauten Knall, und doch geht es nicht ohne die heilende Kraft von Träumen. Am Ende liegen sich Janik und Samuel zum Abschied in den Armen – und werden beide von Irene berührt: zärtlich, behutsam und tröstend.
Horst Peter Koll
Räuberhände - Deutschland 2020, Regie: İlker Çatak, Kinostart: 02.09.2021, FSK: ab 16, Empfehlung: ab 16 Jahren, Laufzeit: 93 Min. Buch: Finn-Ole Heinrich, Gabriele Simon, nach dem gleichnamigen Roman von Finn-Ole Heinrich. Kamera: Judith Kaufmann. Schnitt: Sascha Gerlach, Jan Ruschke. Produktion: Flare Film/Arte Deutschland TV/Südwestrundfunk-Arte/Hessischer Rundfunk. Verleih: Salzgeber. Darsteller*innen: Mekyas Mulugeta (Samuel), Emil von Schönfels (Janik), Katarina Behrens (Irene), Nicole Marischka (Ella), Godehard Giese (Jona) u. a.
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