Yes, God, Yes – Böse Mädchen beichten nicht
Auf Amazon Prime: Wer Sex hat, kommt in die Hölle. Ernsthaft? Alice beginnt zunehmend daran zu zweifeln, was die Kirche ihr erzählt.
Alles ist tabu: Sex vor der Ehe (zwischen Mann und Frau selbstverständlich). Sex ohne Ehe. Sex mit sich selbst. Sex zum Spaß. Was die Klassenkamerad*innen von Alice an der streng katholischen Schule im konservativen mittleren Westen der USA als gottgegeben akzeptieren, weckt in Alice zunehmend Zweifel. Und jede Menge Schuldgefühle. Könnte sie ehrlich sein, würde sie wohl zugeben, dass die Sexszene aus „Titanic‟ es ihr angetan hat und irgendetwas in ihr angesprochen hat, was noch nicht so recht aufblühen durfte.
Als sie sich eines Tages neugierig auf einen schlüpfrigen AOL-Chat einlässt – die Handlung spielt 1999, als das Internet für die meisten Menschen tatsächlich noch Neuland war, lange Ladezeiten hatte und mehr aus Text als aus Bildern bestand -, ist dies, als ob sie eine vollkommen neue Welt betreten würde. Ihr Chatpartner geht ihr verbal an die Wäsche und wirft mit freizügigen Beschreibungen um sich, die Alice staunen lassen. Aber sie fühlt sich nicht ausgenutzt. Sie findet es anregend. Erst recht, als sie dabei zum ersten Mal beginnt, sich selbst zu befriedigen.
Es ist eigentlich zum Heulen, was den jungen Menschen an dieser Schule allen Ernstes eingetrichtert wird. Die Vorstellungen von einem christlichen Leben sind so körperfeindlich und antimodern, dass einem das Schaudern über den Rücken läuft. Das Setting, in dem Alice aufwächst, hätte damit gut und gerne auch den Stoff für ein ernstes Drama hergegeben. Aber Karen Maine hat ihren Film als aberwitzige Komödie angelegt, die vor allem von ihrer Hauptdarstellerin getragen wird. Natalia Dyer, bekannt durch ihre Rolle als Nancy Wheeler in „Stranger Things‟, spielt die zwischen Naivität und Entdeckungsfreude schwankende Alice mit einer charmanten Natürlichkeit und hat ein umwerfendes komödiantisches Talent. Allein durch ihre Gesichtszüge – dabei insbesondere die vielsagend hochgezogenen Augenbrauen – erzählt der Film viel darüber, was sich da gerade im Kopf von Alice abspielt und wie lange Jahre verinnerlichte Regeln immer mehr an Wert verlieren.
Zu einer Bewährungsprobe für Alice wird insbesondere ein viertägiges Seminarmit ihren Mitschüler*innen, im Laufe dessen die jungen Menschen mehr zu sich selbst und zu Gott finden sollen. Eigentlich nimmt Alice daran teil, um wieder auf andere, auf erwünschte Gedanken zu kommen. Doch nach und nach muss sie einsehen, dass sie sich erstens nicht länger verstellen kann und auch andere mehr zu verbergen haben, als sie zunächst eingestehen würden.
„Yes, God, Yes‟ ist ein teilsungemein komisches Plädoyer für mehr Selbstbestimmung undeinen freien und natürlichen Umgang mit Sexualität, das sich voll und ganz auf die Seite seiner Heldin stellt und erzählt, wie diese sich nach und nach von ihren Schuldgefühlen befreit. In den USA mag dieser sympathische, kleine Film, der mit seiner kurzen Laufzeit von nur etwas über 70 Minuten auf das Wesentliche konzentriert bleibt, weitaus brisanter sein als hierzulande. Trotzdem nimmt er durch seinen Witz und seine Unverkrampftheit doch sehr für sich ein und ist nicht plump. Platt ist eigentlich nur der deutsche Zusatztitel „Böse Mädchen beichten nicht‟. Denn wenn Alice etwas ganz sicher nicht ist, dann ein „böses Mädchen‟. Sie ist einfach nur ganz normal.
Stefan Stiletto
Yes, God, Yes - USA 2019, Regie: Karen Maine, Homevideostart: 18.01.2021, FSK: ab 12, Empfehlung: ab 14 Jahren, Laufzeit: 78 Min. Buch: Karen Maine. Kamera: Todd Antonio Somodevilla. Musik: Ian Hultquist. Schnitt: Jennifer Lee. Produktion: Katie Cordeal, Colleen Hammond, Eleanor Columbus, Rodrigo Teixeira. Anbieter: Amazon Prime Video/Capelight. Darsteller*innen: Natalia Dyer (Alice), Timothy Simons (Father Murphy), Wolfgang Novogratz (Chris), Alisha Boe (Nina), Francesca Reale (Laura), Susan Blackwell (Gina) u. a.
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