Girl
Lara träumt davon Balletttänzerin zu werden. Und sie möchte endlich den Jungen-Körper loswerden, in dem sie sich so unwohl fühlt.
Der eigene Blick auf sich selbst ist oft der unerbittlichste von allen. Vor allem, wenn man 15 oder 16 Jahre alt ist. Im Spiegel wird bei genauer Inspektion auch der kleinste Makel sichtbar: die Mitesser am Nasenflügel, die Schultern, die Frisur. Die Pubertät fühlt sich manchmal an wie ein Leben im Boxring, in dem das Mädchen, der Junge mit sich selbst und der ganzen Welt ringt. Man möchte so individuell wie möglich sein und gleichzeitig bloß nicht auffallen. Man wird begutachtet und begutachtet selbst. Auch die bald 16-jährige Lara steht oft vor dem Spiegel und betrachtet sich – ihren schlanken Körper, die feinen, aber auch etwas herben Gesichtszüge, das blonde Haar. „Ich sehe eine schöne, tolle Frau“, sagt der Psychologe, zu dem sie regelmäßig geht. Aber sie glaubt ihm nicht, kann es nicht glauben. Denn im Spiegel sieht Lara den Penis zwischen ihren Beinen, den sie sich jeden Tag fest an den Körper klebt, sie sieht die fehlenden Brüste, die sich auch nach Beginn der Hormontherapie nicht schnell genug entwickeln wollen. Lara ist transident. Sie ist ein Mädchen, das in einem männlichen Körper steckt.
Der belgische Regisseur Lukas Dhont erzählt in seinem Debütfilm „Girl“, der bei den diesjährigen Filmfestspielen von Cannes in der Sektion „Un Certain Regard“ uraufgeführt und viermal ausgezeichnet wurde, nach einem realen Vorbild von einem Mädchen, das beschließt, sie selbst zu sein. Mit der gleichen Beharrlichkeit, mit der Lara ihre äußere Entwicklung zur Frau vorantreibt, verfolgt sie zugleich einen weiteren Herzenswunsch, nämlich die Ausbildung zur professionellen Balletttänzerin in Brüssel, wohin sie mit ihrem alleinerziehenden Vater Mathias und ihrem jüngeren Bruder Milo gezogen ist. Dass sie transident ist, weiß jede*r an der renommierten Schule, und es scheint anfangs auch kein Problem zu sein. Das Konservatorium wird für die junge Frau aber schnell zu einer doppelten Herausforderung, nicht nur, weil sie sich als Ballerina beweisen muss, sondern auch weil der soziale Druck zunimmt. An diesem Ort, an dem weibliche Anmut und Grazilität ebenso wie männliche Kraft ästhetisiert und geradezu überhöht werden, steht sie ständig den anderen Mädchen gegenüber, die unter ganz anderen Voraussetzungen zu Frauen heranwachsen und ihre Körperlichkeit ausleben. Lara zieht sich dagegen auf der Toilette um, duscht nicht mit den anderen und fällt deshalb bald als Außenseiterin auf, was ihr schließlich auf demütigende Weise vermittelt wird.
Lukas Dhont begegnet seiner Figur voller Empathie und Zärtlichkeit, nie führt er sie vor. Wenn man Lara kennenlernt, hat sie entscheidende Prozesse bereits hinter sich: Sie weiß, dass sie eine Frau ist und sie hat es geschafft, dass Familie und Freunde sie auch entsprechend wahrnehmen. Mit Mathias hat sie überdies einen fürsorglichen und verständnisvollen Vater, der sein Kind bedingungslos unterstützt und bei nervenaufreibenden Arztbesuchen begleitet. So erzählt „Girl“ nebenbei auch von einer innigen Tochter-und-Vater-Beziehung, die aber erschüttert wird, als sich Lara angesichts der physischen und psychischen Belastungen zunehmend in sich selbst zurückzieht. „Ich glaube, du weißt gar nicht, wie mutig du bist“, sagt Mathias einmal. „Du bist ein Vorbild für viele Menschen“. Aber Lara will kein Vorbild sein und der Vater muss hilflos dabei zusehen, wie sie sich immer mehr schädigt.
Natürlich könnte man nun einwenden, dass „Girl“ eine Schmerzensgeschichte ist und dass sich Filme mit Trans-Figuren immer an derartigen Themen abarbeiten. Aber tatsächlich macht sich für Lara auch fast alles am Körper fest. Sie lehnt ihn im Ist-Zustand ab, braucht ihn zugleich aber als angehende Ballerina – und muss sich auch im verspiegelten Tanzstudio immer wieder eigenen und fremden Blicken aussetzen. Bald steckt Lara in einem Zwiespalt. Von der strapaziösen Ballettausbildung geschwächt, ist sie nicht stark genug für die geschlechtsangleichende OP, der sie so entgegenfiebert. Die Ärzte verbieten ihr das Tanzen. Ein Traum platzt und sie befürchtet, auch der andere könnte unerfüllbar werden, weshalb sie mit einer radikalen Entscheidung Fakten schafft.
Bemerkenswert ist, dass man sich als Zuschauer*in so gut in Lara hineinfühlen kann. Das liegt zum einem am nuancierten Spiel von Victor Polster, der nach einem mehrmonatigen „gender-offenen“ Casting für diese Rolle gefunden wurde. Eindringlich und glaubhaft vermittelt er Laras innere Konflikte, aber auch kleinste Regungen wie ein beiläufiges Lächeln, das über ihr Gesicht huscht, wenn sie als Milos große Schwester angesprochen wird. Die Kamera ist immer bei Lara. Doch nie ist sie voyeuristisch, auch dann nicht, wenn sie das Mädchen nackt – nur mit einem raffinierten BH bekleidet – vor dem Spiegel zeigt. Denn es ist vor allem Laras eigener Blick, der hier vermittelt wird, der den eigenen Körper geradezu seziert. Dieser Blick ermöglicht den Zugang zu ihrem Gefühl, dass sie sich mit ihrem Leben in einem Warteraum befindet, den sie erst verlassen kann, wenn sie auch im Spiegel eine Frau sieht.
Kirsten Taylor
Girl - Belgien 2018, Regie: Lukas Dhont, Kinostart: 18.10.2018, FSK: ab 12, Empfehlung: ab 15 Jahren, Laufzeit: 105 Min., Buch: Lukas Dhont, Angelo Tijssens, Kamera: Frank van den Eeden, Schnitt: Alain Dessauvage, Musik: Valentin Hadjadj, Produktion: Dirk Impens, Verleih: Universum, Besetzung: Victor Polster (Lara), Arieh Worthalter (Mathias), Oliver Bodart (Milo), Tijmen Govaerts (Lewis), Katelijne Damen (Dr. Naert) u. a.
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