Milla Meets Moses
Milla ist 16 und wird bald sterben. Und sie ist verliebt. In den Junkie Moses.
Sie treffen sich auf Gleis 4. Als Milla noch einmal tief einatmet und auf das Einfahren das Zugs wartet, springt plötzlich ein ziemlich schräger Typ an ihr vorbei bis an den Gleisrand. Moses hat kurz rasierte Haare vorne, hinten eine lange Strähne, ein Tattoo auf der linken Wange, stark gerötete Augen. Wenn die Szene zu Ende ist, wird Milla Moses in den Armen liegen, sein stinkendes T-Shirt auf ihre blutende Nase gepresst. Es ist der Beginn einer wundersamen Liebesgeschichte.
Wahrscheinlich ist es die grenzenlose Energie, die Milla so beeindruckt, die Kraft und das Selbstbewusstsein, mit dem der charmante Außenseiter auftritt. Moses ist sofort einfach da – und alles, was Milla nicht ist. Die 16-Jährige hat gerade keine Kraft, und bald hat sie auch keine Haare mehr: Milla hat Krebs und weiß, dass sie nicht mehr lange leben wird.
Mit diesem Thema liegt „Milla Meets Moses‟ derzeit voll im Trend. Schon seit einigen Jahren fluten Filme über todkranke Jugendliche die Kinos und Streamingdienste, von „Das Schicksal ist ein mieser Verräter‟ (Josh Boone, 2014) über „Am Ende eines viel zu kurzen Tages‟ (Ian Fitzgibbon, 2011) und „Ich und Earl und das Mädchen‟ (Alfonso Gomez-Rejon, 2015) bis hin zu „Drei Schritte zu dir‟ (Justin Baldoni, 2019) und „Clouds‟ (Justin Baldoni, 2020). Was im schlimmsten Fall zur ärgerlichen Schmonzette wird, kann im besten Fall eine starke Geschichte über die Lust am Leben sein. Genau dies gelingt glücklicherweise auch „Milla Meets Moses‟, der weitaus ruppiger und kantiger daherkommt als ähnlich gelagerte Filme und gerade deshalb aus der Masse heraussticht.
So sind auch die Figuren hier nicht aalglatt, sondern haben Ecken und Kanten. Moses ist nicht der gutaussehende Schönling, sondern ein Verlierer mit einer tragischen Familiengeschichte – und ein Junkie noch dazu. Eine Schwäche, die Millas Vater auszunutzen weiß. Indem er Moses Schmerzmittel verspricht, die er als Psychotherapeut besorgen kann, bringt er ihn dazu, bei Milla einzuziehen. Nicht etwa, weil er Moses mögen würde, sondern weil er so verzweifelt ist und sieht, dass Milla in der Gegenwart von Moses regelrecht aufblüht. Auch Millas Mutter hat ein Drogenproblem. Vollgepumpt mit Psychopharmaka versucht sie, sich die Angst vor dem Tod ihrer Tochter zu nehmen.
Manchmal ist „Milla Meets Moses‟, der im Original „Babyteeth‟ – Milchzähne – heißt, einfach gnadenlos ehrlich, weil er keine süßliche Romanze zeigt, sondern auch das Leid, die Angst und die Verzweiflung. Und trotzdem gibt es viele Momente, in denen er das Leben für den Moment feiert. In diesen spielt vor allem Musik eine große Rolle – wobei die Regisseurin Shannon Murphy eine spannende Mischung teils recht unbekannter, mitreißender Sounds gefunden hat, etwa „Come meh way‟ von Sudan Archives oder „Bizness‟ von Tune-Yards, und diese mit klassischen Stücken von Mozart kombiniert.
Immer wieder zerreißt die sprunghafte Erzählung mit ihren zahlreichen Zwischentiteln den Fluss der Handlung und zerstückelt diese in mehrere kurze Episoden. Aber auch das verleiht dem Film einen ganz eigenen Rhythmus. Am Ende wirkt er wie ein Fotoalbum, das man durchblättert und sich dabei an bemerkenswerte Momente eines Lebens erinnert – an die schönen und an die traurigen.
Stefan Stiletto
Babyteeth - Australien 2019, Regie: Shannon Murphy, Kinostart: 08.10.2020, FSK: ab 12, Empfehlung: ab 14 Jahren, Laufzeit: 118 Min. Buch: Rita Kalnejais. Kamera: Andrew Commis. Musik: Amanda Brown. Schnitt: Stephen Evans. Produktion: Alex White. Verleih: X Verleih. Darsteller*innen: Eliza Scanlen (Milla), Toby Wallace (Moses), Ben Mendelsohn (Henry), Essie Davies (Anna), Eugene Gilfedder (Gidon) u. a.
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