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Nur die halbe Geschichte

Eine Liebesgeschichte, die keine ist. Dafür gibt es viele erfrischend unkonventionelle Figuren in dieser moderne Cyrano-de-Bergerac-Variante.

Die Griechen der Antike glaubten, dass die Götter einst die Seele des Menschen in zwei Teile geteilt haben und der Mensch zeitlebens nach seiner anderen, perfekten Hälfte sucht. Auf dieses Konzept der schicksalhaften Seelenverwandtschaft nach Platon beziehen sich der Originaltitel und das Trickfilm-Intro des Films – nur, um es sofort wieder aufzuheben: Die siebzehnjährige Ellie Chu, Ich-Erzählerin und Protagonistin, stellt klar, dass dies keine Liebesgeschichte ist und niemand bekommt, was er will.

Erfreulicherweise ist „Nur die halbe Geschichte“ nicht die übliche romantische Highschool-Komödie, sondern spielt mit deren typischen Elementen, um eine etwas andere Geschichte zu erzählen. In der (fiktiven) konservativ-spießigen amerikanischen Kleinstadt Squahamish lebt Ellie, Einzelgängerin und Einserschülerin mit einer Begabung für philosophische Schulaufsätze, die sie gegen Bezahlung für ihre Mitschüler*innen verfasst. Darum wendet sich auch Paul Munsky, der etwas tumbe Metzgerssohn, an Ellie und bittet sie, ihm mit „ein paar guten Wörtern“ auszuhelfen. Denn Paul will der schönen Aster Flores in einem Brief seine Liebe gestehen, tut sich aber schwer, diese in Worte zu fassen.

Ellie lässt sich widerstrebend darauf ein, da sie das Geld dringend benötigt. Auf diesen ersten Brief folgen weitere Nachrichten und ein intellektuelles Brush-up für Paul, um ihn auf die persönlichen Dates mit Aster vorzubereiten. Doch auch Ellie entwickelt zusehends starke Gefühle für Aster, die nicht ahnt, mit wem sie so seelenverwandt Gedanken austauscht.

In ihrer modernen Cyrano de Bergerac-Interpretation stellt Regisseurin Alice Wu wie in ihrem ersten Film „Saving Face – Liebe und was noch?“ (2004) eine junge chinesische Frau in den Mittelpunkt, die durch ihre Herkunft und sexuelle Orientierung gleich doppelt als Außenseiterin definiert ist. Hier ist die LGBTQ-Thematik jedoch kaum mehr als ein theoretisches Konstrukt. Überhaupt verzichtet der Film auf die Darstellung sexuell konnotierter Körperlichkeit, was auffällt, aber nicht weiter schadet.

Wu lässt ihre Protagonisten lieber darüber diskutieren, was Liebe eigentlich ist: Ist Liebe gütig oder egoistisch? Chaotisch oder doch mutig? Macht Liebe nicht aus, wie viel Mühe man sich gibt? Woran glaubst du? Ellie kennt sich in der Theorie bestens aus, aber sie war bisher noch nie verliebt und wird von diesem neuen Gefühl überwältigt. Paul wiederum muss feststellen, dass es verwirrend viele Arten von Liebe gibt. Das überzeugt in den Begegnungen und „Briefen“ zwischen Ellie, Paul und Aster, weniger jedoch in einer Schlüsselszene im dritten Akt, in der sich die Figuren überflüssigerweise erklären müssen und in der die theatralischen Monologe den Figuren nicht gerecht werden. Denn es ist diesem Coming-of-Age-Film hoch anzurechnen, dass die Figuren Tiefe besitzen. Sie alle haben ihre Macken, Schwächen und Stärken. Sie alle besitzen glaubwürdige Vorgeschichten. Vor allem aber ist es ihnen vergönnt, sich weiterzuentwickeln.

Alice Wu spielt mit den Erwartungen ihrer Charaktere und ihres Publikums. Mit den stereotypen Figuren der klassischen Highschool-Romanze – die begabte Außenseiterin, der tumbe Sportler, das schönste Mädchen der Schule und ihr Freund, selbstbewusst und allseits beliebt – führt sie uns augenzwinkernd in die Irre und zeigt, dass mehr hinter den Rollenmasken steckt. So ist die Außenseiterin Ellie weder schüchtern, noch heimlich in den Mädchenschwarm verliebt, noch hadert sie mit ihrem Status. Im Gegenteil: „Das Gute am Anderssein ist, dass niemand von dir erwartet, wie sie zu sein.‟ Paul ist der typische Kandidat für das Label „Muckis statt Hirn“ – aber das kann er nicht für sich beanspruchen. Er ist weder gut in Form noch der populäre Quarterback, sondern nur Ersatz für den Tight End beim Football (hat man je von dieser Spielerposition gehört?). Sehr witzig, wie Paul unbeabsichtigt allmählich Kondition entwickelt, weil er mit der Rad fahrenden Ellie mitzuhalten versucht, und dann im Spiel ebenso zufällig für Jubel sorgt. Dieser gutmütige Kerl weiß, was er will – nämlich Aster und seine Geschäftsidee namens „Bratwurst-Taco“ – und scheut keine Mühe, um seinen Zielen näher zu kommen. Aster Flores wiederum ist populär und hübsch. Aber das macht sie nicht zur typischen arroganten, dummen und oberflächlichen Zicke. Aster ist klug, mitfühlend – und unsicher. Selbstzweifel quälen sie, entmutigt von den Erwartungen ihrer Mitmenschen. Anders wäre auch kaum zu erklären, wieso sie mit Trig zusammen ist, der als einziger sämtliche Klischees erfüllt: Gutaussehend, selbstverliebt und von sich überzeugt, gefällt er sich in pubertären Posen, umringt von blonden Groupies. Gäbe es in dieser Geschichte den üblichen Abschlussball, er und Aster wären König und Königin. Trig macht seinem Namen alle Ehre („trig“ engl. = „Hemmschuh“), mit ihm gibt es kein Ausbrechen aus den bestehenden (Geschlechter-)Rollen.

Der Film erzählt viele halbe Geschichten: Die der Figuren, hinter denen mehr steckt als auf den ersten Blick erkennbar, und die in den Konstellationen. Ellies Vater ist promovierter Ingenieur, der sich aufgrund seines schlechten Englischs als Bahnhofsvorsteher verdingen muss. Er flüchtet sich in die Sicherheit der „besten Stellen“ in den Filmklassikern aus einer Vergangenheit, in der Ellies Mutter noch lebte. Ellie verkriecht sich in den Kokon des Bahnwärterhäuschens. In ihrer Trauer wirken die beiden wie zwei Hälften eines anderen, verlorenen Ganzen.

Ellie und Paul wiederum sind zwei Hälften, die sich in der „Mission Aster“ ergänzen und nur in ihrer Summe die gewünschte Bedeutung für Aster haben – und auch das ist nur die halbe Geschichte, die halbe Wahrheit. Ein Ausflug in die atemberaubend schöne Natur (toll eingefangen von Kamerafrau Greta Zozula) verschafft Aster und Ellie die Gelegenheit, sich besser kennenzulernen, und deutet an, was sein könnte, wenn die andere halbe Geschichte erzählt würde.

Nein, dies ist keine Liebesgeschichte, in der jeder bekommt, was oder wen er will. Es ist die Geschichte von Freundschaft und von dem Mut, für die eigenen Gefühle, Träume und Pläne einzustehen. Erzählt mit trockenem Humor und Tiefgang, schön aufgelöst in ein folgerichtiges offenes Ende und empfehlenswert durchaus auch für jüngere Zuschauer*innen. „Nur die halbe Geschichte“ wurde als Bester Narrativer Film auf dem Tribeca Film Festival 2020 ausgezeichnet. Schade, dass man diesen Film nicht auf der großen Kinoleinwand zu sehen bekommt.

Ulrike Seyffarth

© Netflix
12+
Spielfilm

The Half Of It - USA 2020, Regie: Alice Wu, Homevideostart: 01.05.2020, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 12 Jahren, Laufzeit: 104 Min. Buch: Alice Wu. Kamera: Greta Zozula. Musik: Anton Sanko. Schnitt: Ian Blume, Lee Percy. Produktion: Likely Story. Anbieter: Netflix. Darsteller*innen: Leah Lewis (Ellie Chu), Daniel Diemer (Paul Munsky), Alexxis Lemire (Aster Flores), Wolfgang Novogratz (Trig Carson), Enrique Murciano (Deacon Flores) u. a.

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