Auerhaus
Sechs Jugendliche finden zu Beginn der 1980er-Jahre Zuflucht in einem alten, hässlichen Bauernhaus und entwickeln sich in der direkten Begegnung.
Das Auerhaus ist gleichzeitig Rückzugsort und Therapiehaus, eine Partybude mit heimeliger WG-Küche, wie man sie sich für eine Story, die im Jahr 1983 angesiedelt ist, authentischer nicht hätte ausdenken können. Hier stranden sechs sehr unterschiedliche 18-Jährige, drei Frauen, drei Männer. Vier von ihnen gehen gemeinsamen in die Abiturklasse ihres Gymnasiums, das schlicht „am Stadtrand“ genannt wird. Eine namenlose Schule beschreibt sehr schön, wie es um den heimatlichen Ort bestellt ist. Zu dem Kaff gehören noch ein Italiener, ein Konsum, eine Metzgerei und ein Bäcker, sonst herrscht dort absolute Ödnis, drumherum Leere, soll heißen: Felder und Wälder. Und nicht zu vergessen das „Schwarze Holz“, die Irrenanstalt.
In dieser landet Frieder, der versucht hat, sich das Leben zu nehmen, aber dummerweise von seinem verhassten Vater noch rechtzeitig gefunden wurde. Aber wo soll er hin, als seine Entlassung bevorsteht? Er kann in das leerstehende Haus seines Großvaters ziehen. Allerdings nur unter Aufsicht – und die übernimmt Höppner, sein Sitznachbar aus der Schule und Freund, gemeinsam mit seiner Freundin Vera. Dazu gesellen sich zunächst die streberhafte Geigenspielerin Cäcilia, später die Pyromanin Pauline, die Frieder in der Psychiatrie kennen gelernt hat, sowie der Drogendealer Harry, der nach seinem Coming-out nicht zurück nach Hause kann.
Für alle ist das Auerhaus Unterschlupf und Schutz vor der Welt. Ein hässlicher Bauernhof, der innen mit seiner typischen Einrichtung im Großeltern-Stil wirklich nichts mit dem Geschmack der jungen Leute zu tun hat. So sehr sie auch die Wände überpinseln oder Undertones-Plakate aufhängen, es bleibt der Mief der Nachkriegszeit, der sich in den Mauern bis in die 1980er-Jahre konserviert hat. Trotzdem wird der Hof zum „Our House“; der Song von Madness war titelgebend für den Roman „Auerhaus“ von Bov Bjerg, als Titelmusik akzentuiert das Lied nun die Filmstory.
Lakonisch und mit einem liebevollen Blick auf die Coming-of-Age-Problematik jedes einzelnen hat sich Neele Leana Vollmer („Maria, ihm schmeckt’s nicht“ 2009, „Rico, Oskar und die Tieferschatten‟, 2014) an die Adaption des Buchbestsellers gewagt. Jede*r hier hat einen sehr persönlichen Grund, sich auf das Abenteuer WG einzulassen, allen ist gemeinsam, dass sie am Wendepunkt ihres Lebens stehen und mal im Überschwang die ganze Welt umarmen wollen, ein anderes Mal große Ängste vor der Zukunft haben. Bjerg hatte mit seinem Roman 2015 einen Überraschungserfolg gelandet und damit an die Erinnerungen der gegenwärtigen 50+-Generation angeknüpft, aber auch die universell gültigen Probleme der Jugend abgebildet. Ist Liebe teilbar, wie Vera es postuliert? Wann bin ich glücklich, wo will ich hin, wie entfliehe ich meinen Eltern? Schaffe ich das Abi? Und wie entkomme ich dem Wehrdienst? Neben all den großen und kleinen Fragen eint fünf der Mitbewohner*innen die Sorge um den sechsten, Frieder. Denn der ist eine tickende Zeitbombe und unberechenbar.
Am gefährlichsten ist Frieder eigentlich, wenn er glücklich ist, denn dann hat er das ausreichende Selbstbewusstsein, sich vor den Zug zu werfen. Frieder sagt, er will sich nicht umbringen, er hat nur keine Lust mehr zu leben – das ist in seinen Augen ein großer Unterschied. Mit diesem Dauerthema des möglichen Suizids schwebt eine Melancholie über dem Film, die von der vorweihnachtlichen trüben Jahreszeit noch unterstrichen wird, dazu Elvis Presleys „Lonely this Christmas“ aus dem Äther und die deprimierende Stimmung ist perfekt. Sie stimmt mit der Tristesse des Ortes überein und der Langeweile, die hier herrscht. Da ist die Flucht in die Wohngemeinschaft die beste Möglichkeit, einmal etwas Außergewöhnliches zu erleben.
Alle kommen tatsächlich ein bedeutendes Stück in ihrer jeweiligen Entwicklung weiter, individuell interpretiert von herausragenden jungen Schauspieler*innen und wieder zusammengefügt zu einer wunderbaren Ensembleleistung. Das macht die Spannung aus, mit der man den Veränderungen folgt, denn jeder findet einen Weg aus der Eintönigkeit und Undifferenziertheit seines Lebens. Dabei schauen wir den sechs Jugendlichen gerne zu, gerade auch weil es ein bisschen weh tut und eigene Erinnerungen wachruft. Denn Geschichten, die vor nunmehr über 30 Jahren spielen und somit vor Einführung des Euro und vor den medialen Errungenschaften, wirken wie Erzählungen von einem anderen Stern. Die Auerhäuser sind noch auf sich selbst zurückgeworfen, keine Handys oder PCs übernehmen hier die Kommunikation, es wird geredet und gestritten, gerauft und sich auch wieder versöhnt. Wer den Abwasch nicht macht, dessen Konterfei wird für alle sichtbar auf das geklaute Terroristenfahndungsplakat an der Küchenwand gepinnt. Man geht in die Zimmer der Mitbewohner*innen, anstatt Kurznachrichten zu verschicken. Derart unmittelbare Konfrontationen sind es, mit denen „Auerhaus“ sehr direkt andockt an die Emotionen der Zuschauer*innen jedes Alters. Kassettenmusik mit Titeln vom Anfang der 1980er-Jahre verstärkt zusätzlich die authentische Atmosphäre. Einfach großartig.
Katrin Hoffmann
Auerhaus - Deutschland 2019, Regie: Neele Leana Vollmar, Kinostart: 05.12.2019, FSK: ab 12, Empfehlung: ab 14 Jahren, Laufzeit: 107 Min. Buch: Neele Leana Vollmar, Lars Hubrich, nach dem gleichnamigen Roman von Bov Bjerg. Kamera: Frank Lamm. Musik: Charlotte Goltermann, Sandra Molzahn. Schnitt: Hansjörg Weissbrich, Ana de Mier y Ortuño. Produktion: Kristina Löbbert. Verleih: Warner. Darsteller*innen: Max von der Groeben (Frieder), Damian Hardung (Höppner), Devrim Lingnau (Cäcilia), Luna Wedler (Vera), Sven Schelker (Harry), Ada Philine Stappenbeck (Pauline) u. a.
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