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Der geheimnisvolle Blick des Flamingos

Im Kino: Eine karge Wüste, eine queere Bar – und und Lidia mittendrin. Poetisches Debüt über Liebe, Angst und Identität.

In Boas Bar treten abends Künstler*innen aus ihrer Familie auf. Flamingo ist von allen die schönste: groß, schlank, das Gesicht fast weiß geschminkt. Um die 12-jährige Lidia kümmert sich Flamingo wie eine Mutter. Als Lidia am Teich von größeren Jungs geärgert und untergetaucht wird, zieht die ganze Familie dorthin  bereit zur Auseinandersetzung.

„Der geheimnisvolle Blick des Flamingos“ zeigt queeres Leben in einer kleinen Stadt in der nordchilenischen Wüste 1982. Die Männer hier sind Bergarbeiter, arm sind hier alle, die Landschaft ist karg und voller Brauntöne, Häuser stehen vereinzelt in der Gegend herum. Und immerzu ist die Rede von „der Seuche“, angeblich stecke man sich an, wenn man den Transvestiten, den Schwulen aus der Familie von Boa nur in die Augen sehe.

Eine Ahnung vom industriellen Hintergrund der Siedlung, von der Arbeit vermittelt nur der Vorspann, in körnigen, womöglich historischen Aufnahmen vom Güterbahnhof: Arbeiter mit flachen Stahlhelmen, die Einfahrt in eine Mine. Die Landschaft bilden weit über die Leinwand mäandernde, fast monochrome Farbschichten. Die einzigen geraden Linien und harten Kontraste sind menschengemacht: Eisenbahnschienen, Züge, kantige Häuser, eher Baracken.

Als letztes Bild des Vorspanns, kurz bevor Lidia nach der Demütigung am örtlichen Teich nach Hause läuft, ist zu sehen, wie aus einem Eisenbahnwaggon noch glühender Abraum den Hang hinuntergekippt wird: leuchtendes Rot, das langsam einen Riss in die Eintönigkeit des Bildes laufen lässt, immer länger.

Man darf das symbolisch lesen wie viele Bilder dieses bemerkenswerten Debütfilms, der sich enorm viel Zeit lässt, um den Blick sehr genau auf einen sehr kleinen Ausschnitt der Welt zu richten. Eine Welt, in die gerade Risse und Verwerfungen geraten. Bis vor kurzem, zu sehen in einer Rückblende, besuchten die Arbeiter zahlreich die Bar, die Boa hier betreibt, als Zieh-Mutter aller Außenseiter*innen dieses Ortes. Aber jetzt, mit dem Gerede von der Seuche, sitzen nur noch Vereinzelte im Publikum, und wenn Boa, Flamingo und die anderen das Haus verlassen, bedecken die Männer ringsum ihre Augen vor Angst.

„Die Seuche“, soviel lässt sich erahnen, steht – teilweise metaphorisch, eher noch real – für AIDS, und damit auch für die Angst vor Unbekanntem, vor Außenseiter*innen, verbunden vielleicht mit vage moralisch begründeten Ausgrenzungen. In dieser kleinen Gemeinschaft ist sie direkt verknüpft mit der Angst einzelner. Flamingos Ex-Liebhaber Yovani hat sich angesteckt, er fühlt sich immer noch zu ihr hingezogen, sie aber will eigentlich nichts mehr von ihm wissen. Ein letztes Mal geht sie mit ihm noch einmal zum Teich, dann liegt sie morgens tot da, die Augen ausgestochen.

Die Perspektive des Films lehnt sich an Lidias Blick an: Das Kind, dem wenig erklärt wird, das noch wenig versteht, dadurch aber womöglich eine weniger verstellte Perspektive hat als andere. Die Erzählung folgt im Kern ihren Erlebnissen, schweift aber auch ab und begleitet die Erwachsenen, etwa nachts im Teich, wo die Emotionen von Flamingo und Yovani zwischen Leidenschaft und gewaltsamer Auseinandersetzung hin- und herschwanken.

Als Reaktion auf Flamingos Tod sucht die Stadtgemeinschaft nicht etwa ihren Mörder, sondern schickt Bewacher in Boas Bar: Die Familie soll sich die Augen verbinden, in der Bar bleiben, damit niemanden sonst „die Seuche“ treffe. Die harsche Trennung aber löst sich bald auf, die Augenbinden nimmt kaum jemand ernst, und Boas sehr bärtiger Bewacher verliebt sich in die Hausherrin: Erst trifft man sich zum Tee in der Landschaft, dann wird richtig Hochzeit gefeiert, die erwachsene Tochter des Bärtigen kommt aus der Stadt dazu, gefeiert wird ein großes Fest, die Ehe wird auf „Blut und Sperma“ geschlossen.

Erst spät im Film wird „die Seuche“ auf ihre irdische Komponente zurückgestutzt: Nicht die Blicke übertragen sie, nicht, dass Männer sich in Männer verlieben, es sind die Körperflüssigkeiten. Lidia kann, außer in einer an Western erinnernden Fantasie, ihre mütterliche Beschützerin nicht rächen, das Ende bleibt offen, aber viele Todkranke bleiben zurück.

Diego Céspedes verweigert sich in „Der geheimnisvolle Blick des Flamingos“ konventioneller Dramaturgie und Spannung: Die Handlung streicht langsam dahin, lebt von Bildern und kurzen, explosiven Ausbrüchen von Emotion und Auseinandersetzung. Darin stecken Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, aber eben auch langsame Veränderungen. Und Boas Hochzeit wirkt wie ein Fanal, dass Identitäten womöglich nicht so fluide sind, wie Ansichten und Begehren es sein können. Es ist die Liebe, die wie heiß glühender Abraum einen Riss ins bekannte Bild hineinbrennt.

Rochus Wolff

© Filmreederei
16+
Spielfilm

La misteriosa mirada del flamenco - Frankreich, Chile, Deutschland, Spanien, Belgien 2025, Regie: Diego Cespedes, Kinostart: 04.12.2025, FSK: ab 16, Empfehlung: ab 16 Jahren, Laufzeit: 106 Min., Buch: Diego Céspedes, Kamera: Angello Faccini, Musik: Florencia Di Concillio, Schnitt: Martial Salomon, Produktion: Giancarlo Nasi, Damien Megherbi, Justin Pechberty / Les Valseurs, Quijote Films, Verleih: Filmreederei, Besetzung: Tamara Cortés (Lidia), Matías Catalán (Flamingo), Paula Dinamarca (Boa), Pedro Muñoz, Luis Tato Dubó (Clemente), Vicente Caballero u. a.

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