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Tiger

In der ARD-Mediathek: Für das bezahlt werden, was Martin ohnehin am liebsten tut? Genial! Doch in der Welt des Profifußballs tun sich Abgründe auf.

Der 16-jährige Schwede Martin Bengtsson ist ein so vielversprechender Nachwuchsfußballspieler, dass er sich über einen Vertrag beim italienischen Top-Ligisten Inter Mailand freuen kann. Doch in Italien angekommen erweist sich der Traum, für den er seit frühster Kindheit geackert hat, schnell als Alptraum: seine Mitspieler mobben ihn, er versteht die Sprache nicht, die Entscheidungsfindungen seiner Trainer erscheinen mitunter nebulös. Einzig der aus den USA stammende Torwart Ryan erweist sich als Lichtblick, ist er doch der Einzige, der Martin zur Seite steht. Als er dann doch langsam aufsteigt, sein Talent zeigen darf und zusätzlich auch noch die schlagfertige Viebke kennen und lieben lernt, scheint sein Leben doch noch so zu werden, wie er es sich immer ausgemalt hat. Aber das Dasein im Profisport behält für Martin leider noch mehr unangenehme Überraschungen bereit …

„Tiger“ basiert auf der Autobiographie des schwedischen Fußballspielers Martin Bengtsson, der wirklich in jungen Jahren nach Inter Mailand ging, nur um wenige Monate später nach einem Selbstmordversuch im Krankenhaus zu landen und sich schließlich vom Profifußball zurückzuziehen. Heute verdingt er sich als Musiker und Schriftsteller, sein Buch (in Deutschland unter dem Titel „Freistoß ins Leben“ erschienen) brach mit dem Tabu, dass über psychische Belastungen und Erkrankungen wie Depressionen im Profifußball nicht geredet wird. Zu groß das Stigma, zu groß die Angst davor, als „weich“ dazustehen. „Echte Männer“ wahren schließlich so lange die Fassade, bis sie tot sind – egal, ob durch die eigene Hand oder nicht. „Tiger“, der formal zunächst den üblichen Mechanismen des Sportfilms folgt, weiß diese sinnlosen Dogmen aufzubrechen, ohne das Publikum zu sehr auf diese Aussage zu stoßen. Er wahrt einen immer etwas distanzierten, manchmal sogar fast dokumentarischen Blick auf das Geschehen und bleibt dennoch ganz nah bei Martin. So nah, dass man nie erfährt, warum die anderen Spieler ihn eigentlich von Minute eins an mobben.

Neben den zwischenmenschlichen Konflikten, dem Dasein als „New Kid in Town“ offenbart „Tiger“ beiläufig die zermürbenden Mechanismen des Profisports. Junge Talente werden aufgebaut, um sie dann gewinnbringend zu verkaufen – oder sie werden abgestoßen, solange sie überhaupt noch etwas einbringen. Das Bild eines geduldeten und sogar geförderten Menschenhandels drängt sich auf, denn auch wenn die Aussicht auf viel, viel Geld winkt, psychisch haben alle Fußballspieler hier mit Dingen zu kämpfen, auch jene, die sich mit einem aufgesetzten Machogehabe als besonders stabil inszenieren. Ganz leise lässt „Tiger“ Kritik am ganzen System des im Kapitalismus organisierten Sports einfließen: Zerstört die Maxime des Geld-verdienen-Müssens nicht genau das, worauf Sport in seinen Grundfesten angewiesen ist: den Spaß am Spiel? Zerstört der Fußball in diesem System also am Ende genau das: den Fußball als Spiel, als Betätigung, als Passion?

Bitter wird der schwedische Film vor allem dann, wenn sich Martin diesem System beugt, immer weiter von ihm manipuliert wird, bis zu dem Punkt, dass er sein persönliches Glück den lustfeindlichen und weltfremden Statuten des Vereins unterwerfen zu müssen glaubt. Emotionale Stabilität und eigenständige Entwicklung wird einem Ziel geopfert, das vielleicht nie zu erreichen ist. Was vorher vielleicht noch als Melancholie und zeitweilige Verstimmung durchgegangen wäre, baut sich zu einer handfesten Depression aus. Aber darüber darf ja nicht geredet werden … Ohne zu dick aufzutragen, bringt „Tiger“ das Publikum gekonnt zum Verzweifeln.

„Tiger“ will nicht den Sport an sich kritisieren, nicht die Menschen, die in ihm ihre Erfüllung finden, wohl aber das reformbedürftige System, das Ausbeutung, Schikane und dergleichen erst möglich macht. Und natürlich ein System, das mit antiquierten Vorstellungen von Geschlecht und den damit einhergehenden Bedürfnissen Elend erst zur vollen Blüte treiben kann. Überspitzt gesagt: Auch Männern nutzt es nicht, ihren Frust und ihre Verzweiflung immer nur zu unterdrücken. Denn dies führt zunächst zum Verlust des Spaßes an der Sache und später zu psychischen Erkrankungen, in den schlimmsten Fällen zu noch mehr. „Tiger“ und Martin Bengtsson möchten dies allen Zuschauer*innen subtil, aber dennoch eindrücklich mitteilen.

Jan Noyer

© Black Spark Film & TV
16+
Spielfilm

Tigrar - Schweden 2020, Regie: Ronnie Sandahl, Homevideostart: 09.06.2024, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 16 Jahren, Laufzeit: 116 Min., Drehbuch: Ronnie Sandahl, nach dem Buch von Martin Bengtsson, Kamera: Marek Wieser, Schnitt: Åsa Mossberg, Musik: Jonas Colstrup, Produktion: Black Spark Film & TV, Verleih: Wild Bunch International, Besetzung: Erik Enge (Martin Bengtsson), Frida Gustavsson (Vibeke), Liv Mjönes (Karin), Alfred Enoch (Ryan), Johannes Kuhnke (Peter), Henrik Rafaelsen (Martins Vater), Lino Musella (Luca), Antonio Zavatteri (Mannschaftsarzt), Maurizio Lombardi (Galli), Daniele La Leggia (Dario)

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