We Grown Now
Auf Amazon Prime: Malik und Eric sind beste Freunde. Sie träumen vom Fliegen und wünschen sich, endlich gesehen zu werden.
Ganz schön anstrengend, so eine alte Matratze aus dem zehnten Stock die Treppen hinunter und danach noch quer durchs Viertel zu tragen. Malik und sein bester Freund Eric machen es trotzdem. Denn danach wartet die Belohnung auf sie. Gemeinsam mit ihren Freund*innen springen sie auf die Matratzen. Sie schlagen Saltos, nehmen Anlauf und hechten auf die Matten. Wie großartig es ist, für einen kurzen Moment fliegen zu können und sich losgelöst zu fühlen. Und wie gut es tut, nach dem Versuch auch wieder weich zu landen. In ihrem Alltag geht das nicht so leicht. Malik und Eric leben mit ihren Familien im Cabrini Green Wohnblock, einem sozialen Wohnungsbauprojekt in Chicago. Wer dort fällt, landet normalerweise hart. Trotzdem haben die Bewohner*innen des Viertels ihren Lebensmut, ihre Lebensfreude nicht verloren und in dem Block eine Heimat für sich gefunden. Wurzeln, nennt Maliks allein erziehende Mutter das. Doch als eines Tages ein 7-jähriger Junge vor der Schule erschossen wird, nimmt der Druck von allen Seiten zu. Malik und Eric dürfen nicht mehr nach draußen, alle Bewohner*innen stehen unter Generalverdacht, weiße Polizisten missachten die Rechte der Bewohner*innen. In Maliks Mutter wächst zunehmend der Wunsch, das Viertel für immer zu verlassen.
Eine Freundschaft zwischen zwei Kindern steht im Mittelpunkt von Minhal Baigs „We Grown Now“. Malik und Eric sind unzertrennlich. Gemeinsam träumen sie vom Fliegen, gemeinsam liegen sie manchmal auf Matratzen in leer stehenden Wohnungen, den Blick an die heruntergekommene Decke gerichtet, und träumen sich hinaus ins Weltall. Eine starke Poesie prägt den gesamten Film und bricht die Beschränkungen der tristen realen Welt immer wieder auf. Ganz oft zeigt Baig ihre Protagonist*innen in Zeitlupen, so dass sie ebenso anmutig wie mystisch durch den Raum zu schweben scheinen. Kitschig wirkt das nie, vielmehr sehr schön und berührend, was durch die langsamen Kamerabewegungen, die emotionale Streichermusik sowie die ungewöhnlichen Perspektiven und Bildausschnitte noch verstärkt wird.
Und doch ist „We Grown Now“ trotz aller Wärme und Sanftheit auch ein sehr bestimmter, sehr wütender Film. „Es gibt uns!“, plärren Malik und Eric immer wieder durch die Gitter der Balustraden hinein in die Innenhöfe. Obwohl sie noch so jung sind, haben sie schon gemerkt, welchen Status andere ihnen zuweisen und wie andere sie sehen. Sie haben ein Bewusstsein dafür, dass sie arm sind. Sie haben gespürt, dass sie als Bewohner von Cabrini Green Außenseiter sind, dass sie am Rande stehen. Und es ist eine Stärke des Films, diese grundsätzliche Ungleichbehandlung, die Diskriminierung und den Rassismus nie in Worte zu fassen, sondern durch die Situationen spürbar werden zu lassen. Zentral dafür ist eine Szene, in der es nach dem tödlichen Zwischenfall vor der Schule – der auf realen Begebenheiten beruht – nachts laut an der Wohnungstür von Maliks Familie klopft. Weiße Polizisten mit schwerer Ausrüstung stürmen die Wohnung und durchsuchen, nein, zerstören sie. Die Männer mit ihren Schutzhelmen bleiben anonym und gesichtslos – und hinterlassen eine verunsicherte, gebrochene Familie, die ihren Schutzraum auf brutale Art verloren hat.
Inmitten der äußeren Konflikte wendet sich der Film aber schließlich einem ganz persönlichen, kleinen Drama zu. Denn Malik erzählt seinem Freund Eric nicht von den Plänen seiner Mutter. Und als Eric dies eher zufällig erfährt, ist seine Enttäuschung umso größer. Er fühlt sich verraten, allein und im Stich gelassen. Mit Malik droht der Mensch aus seinem Leben zu verschwinden, mit dem er alles teilen konnte. So kommt es zum Bruch zwischen den Freunden und die Frage steht im Raum, wie sie wieder zueinander finden können.
„We Grown Now“ erzählt von einem Aufbruch und einem Abschied, von Traum und Wirklichkeit, und ist auch eine Verneigung vor den Menschen, die 1992, der Handlungszeit des Films, in Cabrini Green gelebt haben. Den Blicken von außen setzt er eine liebevolle Innenperspektive entgegen, die zwar die negativen Seiten wie Armut, Gewalt und Kriminalität nicht ausblendet, aber doch die positiven in den Vordergrund stellt. Die Fotos jener Zeit, die während des Abspanns zu sehen sind und Kinder in Cabrini Green zeigen, fangen treffend die Atmosphäre des Films ein und lassen die realen Entwicklungen umso harscher und hilfloser wirken: Im Jahr 2011 wurden die letzten Hochhäuser des sozialen Brennpunkts abgerissen.
„We Grown Now“ ist ein sehr leiser, sehr lauter Film, der mit ganz wenigen Worten und starken, eindrucksvollen Bildern ganz viel zu erzählen weiß.
Stefan Stiletto
Im Kino zu entdecken gab es „We Grown Now“ in Deutschland nur 2024 beim Filmfestival Lucas, wo er in der Reihe Teens mit dem Preis für den besten Langfilm ausgezeichnet wurde. Seither muss man ihn in den Tiefen der Streaminganbieter suchen.
USA 2023, Regie: Minhal Baig, Festivalstart: 09.10.2024, FSK: ab 12, Empfehlung: ab 13 Jahren, Laufzeit: 92 Min., Buch: Minhal Baig, Kamera: Pat Scola, Musik: Jay Wadley, Schnitt: Stephanie Filo, Produktion: Minhal Baig, Joe Pirro, Verleih: Sony, Besetzung: Blake Cameron James (Malik), Gian Knight Ramirez (Eric), S. Epatha Merkerson (Anita), Jurnee Smollett (Dolores), Avery Holiday (Amber) u. a.
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