Belfast
Im Kino: Ein neunjähriger Junge erlebt die Troubles in Nordirland. Eine Kindheitserinnerung.
Auf den Straßen eines Belfaster Arbeiterviertels spielen Kinder, unter ihnen der neunjährige Buddy, der mit einem Holzschwert und einem Mülltonnendeckel als Schild gegen imaginäre Feinde kämpft. Als plötzlich ein randalierender Mob in das Viertel einfällt, wird aus dem Spiel bitterer Ernst: Buddys Mülldeckel wird zum Schutzschild gegen sehr reale Steine, Mütter bringen eilig ihre Kinder in Sicherheit, während rundum Fensterscheiben zu Bruch gehen und es vielerorts brennt.
Es ist der August 1969: Der bewaffnete Konflikt zwischen Protestant*innen und Katholik*innen in Nordirland eskaliert. Diesen historischen Wendepunkt wählt Regisseur Kenneth Branagh für seinen autobiografisch geprägten und in Retro-Schwarzweiß gehaltenen Film, zu dem er auch das Drehbuch verfasst hat. Der gebürtige Belfaster hat die „Troubles“ miterlebt, bevor er als Neunjähriger mit seiner Familie nach London zog. Buddy darf also als fiktionalisierte Version des jungen Branagh verstanden werden. Buddys subjektive Wahrnehmung der gesellschaftspolitischen Unruhen ist auf die persönlichen Auswirkungen, das Setting auf seine unmittelbare Umgebung beschränkt. Die nordirische Hauptstadt bleibt ansonsten unsichtbar, abgesehen von dem ein- und ausgangs aus der Vogelperspektive und in Farbe gefilmten heutigen Belfast.
Zunächst ändert sich für Buddy nur wenig. An die Barrikaden und englischen Soldaten gewöhnt man sich, Buddy geht weiter zur Schule, spielt und sieht mit seinem Bruder Will fern. Pop und Granny, seine humorvollen und lebensweisen Großeltern, sind immer für ihn da. Wenn Pop auf dem Außenklo Audienz hält, findet Buddy bei ihm zuverlässig Rat. Sein Verständnis von Gut und Böse leitet Buddy vor allem von seinen geliebten Filmen her. Die Unterscheidung ist im wirklichen Leben jedoch nicht so leicht zu treffen. Die Kirche scheint die Antwort zu kennen, aber die mit ewiger Verdammnis drohende Predigt verwirrt und ängstigt Buddy. Woran erkennt man doch gleich den rechten Weg? Keinesfalls, indem man aus dem Ernst der Lage Spiel macht und die Plünderungen als Abenteuer sieht – auch seine Mutter taugt als moralischer Kompass. Auf die Frage nach „richtig“ und „falsch“ gibt es selten eine einfache Antwort. Das gilt erst recht für die Entscheidung der Eltern, wie es weitergehen soll: Bleiben oder gehen?
Trotz seines jungen Protagonisten ist „Belfast“ kein Kinderfilm und will es auch gar nicht sein. Vielmehr handelt es sich um einen nostalgischen Rückblick aus erwachsener Erinnerungsperspektive, mit Buddy als Projektionsfläche für die Belange der Erwachsenen. Von einem Reifeprozess mit eigenen Entscheidungen kann nicht die Rede sein. In vielen Szenen bleibt Buddy passiver Zuschauer oder fehlt gleich ganz. Buddys Vater, der in London arbeitet, kann nicht für die Sicherheit seiner Familie garantieren. Ein Umzug nach London wird immer wahrscheinlicher. Erst dadurch ändert sich alles für Buddy. Seine Angst, die vertraute Umgebung und geliebten Menschen zu verlieren, ist so konkret wie nachvollziehbar. Der Film erzählt von Heimat und Verlust – ein Thema von trauriger Aktualität. Teil einer Gemeinschaft zu sein, mit der man Kultur, Sprache, Humor, das Leben teilt, macht Heimat zu einem Gefühl. Visuell wird dieses durch kammerspielartig inszenierte kleine Räume und schmale Hinterhöfe umgesetzt, die die Enge der Nachbarschaft greifbar machen. Offene Türen und Fenster versinnbildlichen das Miteinander der Menschen. Dieser Zusammenhalt findet auch Ausdruck in den Kino- und Theaterbesuchen. Dass diese Freude und Farbe in die dunklen Zeiten bringen, wird plakativ, aber effektvoll vermittelt, indem Leinwand und Bühne das umgebende Schwarzweiß durchbrechen und in den schönsten Farben erstrahlen. Und auch Musik spielt eine wichtige Rolle: Wenn die Nachbar*innen ihre Plattenspieler vor die Häuser tragen und zwischen den Barrikaden zur Musik tanzen, wird diese zum Symbol für die ungebrochene Lebensfreude der Belfaster. Buddys Vater performt zuletzt gar auf der Bühne „Everlasting Love“ für seine Frau und Nachbarschaft. Die Szene ist ein stilistischer Ausreißer, was aber vielleicht beabsichtigt ist, um den Abschied vom alten Leben zu unterstreichen.
Unterm Strich ist „Belfast“ durchaus sehenswert, vor allem wegen seiner gut besetzten, charismatischen Figuren. Der zehnjährige Jude Hill gibt ein recht ordentliches Debüt als Buddy. Ein Genuss sind Judy Dench und Ciarán Hinds als Großeltern, die glaubhaft das gemeinsam durchliebte und durchkämpfte Leben verkörpern. Dafür erhielten sie unter anderem jeweils den Golden Globe (Beste weibliche/männliche Nebenrolle).
Mit seinem sehr persönlichen Film setzt Branagh den Menschen in Belfast ein je nach Sichtweise sentimentales oder berührendes Denkmal, wovon auch die Widmung vor dem Abspann zeugt. Auf jeden Fall trifft er einen Nerv.
Ulrike Seyffarth
Belfast - Großbritannien 2021, Regie: Kenneth Branagh, Kinostart: 24.02.2022, FSK: ab 12, Empfehlung: ab 12 Jahren, Laufzeit: 98 Min. Buch: Kenneth Branagh. Kamera: Haris Zambarloukos. Musik: Van Morrison. Schnitt: Úna Ní Dhonghaíle. Produktion: TKBC. Verleih: Universal. Darsteller*innen: Jude Hill (Buddy), Caitriona Balfe (Ma, Buddys Mutter), Jamie Dornan (Pa, Buddys Vater), Judy Dench (Granny, Buddys Großmutter), Ciarán Hinds (Pop, Buddys Großvater) Lewis McAskie (Will, Buddys Bruder), Lara McDonnell (Moira), Nessa Eriksson (Cousine Vanessa) u. a.
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