Power to the Children – Kinder an die Macht
Wenn Kinder politische Verantwortung übernehmen: Ein Dokumentarfilm über Kinderparlamente in Indien.
In Indien, der größten Demokratie der Welt, nehmen viele Kinder ihr Leben in die eigenen Hände, indem sie Kinderparlamente gründen, eigene Minister*innen wählen, ihre Rechte einfordern und sich für das Gemeinwohl engagieren. Der Dokumentarfilm von Anna Kersting zeigt an drei Beispielen, wie so etwas funktioniert.
Pünktlich zum Weltkindertag am 20. September 2018 kommt ein Dokumentarfilm in die deutschen Kinos, der eindrucksvoll beschreibt, was Kinder und Jugendliche im Bundesstaat Tamil Nadu alles erreichen können, wenn sie Missstände in ihrer Umgebung nicht einfach hinnehmen, sondern sich für ihre eigenen Angelegenheiten einsetzen. Die Berliner Regisseurin Anna Kersting, die hier auch als Autorin, Produzentin und Verleiherin fungiert, erzählt konsequent aus der Sicht von Kindern und Jugendlichen, die in einem patriarchalisch geprägten Gesellschaftsmilieu nicht einfach nur den Anordnungen der Erwachsenen folgen. Vielmehr nutzen sie wichtige Strukturen der Demokratie wie Parlamente und Minister*innen, um mit Mut, Entschlossenheit und Kreativität gegenüber Institutionen der Erwachsenen ihre Bedürfnisse zu formulieren und Verbesserungen in ihrem sozialen Umfeld durchzusetzen.
Kersting konzentriert sich dabei auf drei Jugendliche, die paradigmatisch für viele Mitglieder der 50.000 Kinderparlamente stehen, die es inzwischen in Indien gibt. Im Dorf Chatti kümmert sich die 14-jährige Sri Priya vor allem um die Umweltprobleme des Dorfes. Sie lebt mit ihrem älteren Bruder bei ihrer Großmutter, weil ihre Eltern weit entfernt arbeiten. Seit sie als gewählte Innenministerin den Bürgermeister immer wieder auf Mängel bei der Müllentsorgung und der Wasserversorgung hingewiesen hat, hat sie sich bei den Erwachsenen großen Respekt verschafft. Mit dem örtlichen Kinderparlament hat sie dafür gesorgt, dass es im Dorf keine Kinderheirat mehr gibt.
Der 15-jährige Shaktivel hat im Dorf Patti das Amt des Kulturministers übernommen und setzt sich mit dem lokalen Kinderparlament dafür ein, den Alkoholismus im Dorf einzudämmen. Denn viele Mütter und Kinder leiden unter der Trunksucht der Väter und Gewalt in der Familie. Zum einen fordert das Parlament, die staatlich lizenzierten Alkoholverkaufsläden zu schließen. Zum anderen entwickelt der kreative Shaktivel mit einigen Mitstreiter*innen ein Theaterstück, das die schädlichen Folgen des Alkoholmissbrauchs für die Familien anschaulich macht.
Die interessanteste Figur aber ist die 15-jährige Swarna Lakshmi aus der Küstenstadt Pondicherry. Das blinde Mädchen setzt sich seit fünf Jahren für Inklusion ein und hat nach mehreren Ministerposten nun als Premierministerin die höchste Position im Kinderparlament von ganz Indien übernommen. Mit einer Delegation reist sie zu den Vereinten Nationen in New York, wo sie sich für ein Weltkinderparlament stark macht.
In etlichen Sequenzen werden wir Zeugen, wie die Kinderparlamentarier*innen mit großem Ernst lokale Probleme erörtern und in mühevoller Kleinarbeit nach Lösungen suchen. Und zwar nicht nur für sich, sondern auch für das Gemeinwohl. Etwa wenn einige Kinder von Patti sich in einer Baumschule Setzlinge abholen und in ihrem Dorf anpflanzen. Oder wenn eine Kinderdelegation in Chatti Eltern aufsucht und befragt, warum ihre Kinder nicht mehr zur Schule kommen. Aufgrund des engen Vertrauensverhältnisses zwischen Filmteam und Protagonist*innen sind diese auch bereit, Sehnsüchte, Träume und schmerzliche Erfahrungen preiszugeben.
Etwas gewöhnungsbedürftig ist eine akustische Besonderheit des Films: Während fremdsprachige Filme hierzulande meist synchronisiert werden, werden hier die tamilischen Dialoge per Overvoice ins Deutsche übertragen, was die Verständlichkeit manchmal erschwert. Besser gelungen sind einige kleine Animationen, die zum Beispiel die parlamentarische Arbeit anschaulich machen.
Was bei den detailfreudigen Schilderungen fehlt, die manchmal etwas langatmig und sich inhaltlich teilweise gelegentlich auch wiederholen, sind Hintergrundinformationen über die Entstehung der Kinderparlamente. Diese fallen ja nicht vom Himmel, sondern gehen in der Regel auf Impulse von Erwachsenen zurück. So entwickelte vor Jahren die südindische Hilfsorganisation Neighbourhood Community Network das Konzept unabhängiger Kinderparlamente, die mithelfen sollen, dass Kinderrechte auch respektiert werden. Dieses Konzept wurde von vielen lokalen Menschenrechtsgruppen übernommen, die interessierten Kindern eine Vertrauensperson zur Seite stellt, die über Kinderrechte aufklärt und bei der Gründung eines Kinderparlaments hilft.
Jenseits solcher Defizite macht der Film Kinder und Jugendlichen in anderen Ländern allemal Mut, dem indischen Beispiel zu folgen und sich selbst nachdrücklich für ihre Rechte einzusetzen. Und natürlich sollten auch Eltern und Politiker den Film sehen, um besser zu verstehen, wie wichtig es ist, den Kindern und Jugendlichen zuzuhören.
Reinhard Kleber
Power to the Children – Kinder an die Macht - Deutschland 2017, Regie: Anna Kersting, Kinostart: 20.09.2018, FSK: ab 6, Empfehlung: ab 10 Jahren, Laufzeit: 87 Min., Buch: Anna Kersting, Kamera: Ratheesh Ravindran, Schnitt: Katharina Fiedler, Musik: Manickam Yogeswaran, Produktion: Anna Kersting, Verleih: Backpack Distribution, Mitwirkende: Sri Priya, Shaktivel, Svarna Lakshmi u. a.
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