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Taubes Gestein

Entdeckt bei goEast 2022: Streifzüge durch ein verwüstetes Land. Der prämierte Dokumentarfilm zeigt das Leben von Kindern im Donbass.

Die Redewendung, gute Bilder sprechen für sich, ist sicher nicht falsch. Aber sie kann trügerisch sein, denn auch Bilder müssen „gelesen“ und in den entsprechenden (historischen) Zusammenhang gestellt werden. Nicht selten sind sie mit zusätzlicher Bedeutung versehen, wenn detaillierte Informationen hinzukommen. Ganz unmittelbar lässt sich das gleich mit der ersten Sequenz dieses Films nachvollziehen. Mitten in der Nacht ziehen mehrere Kinder, vermutlich zum Jahreswechsel, mit bunten Leuchten in einem Wohnblock von Tür zu Tür und bitten um Süßigkeiten oder etwas Geld. Die meisten Türen bleiben ihnen verschlossen, doch in einer der Wohnungen öffnet eine alte Frau, bittet die Kinder ohne Misstrauen freundlich herein und beschenkt sie, obwohl sie selbst offensichtlich nicht im Überfluss lebt. Nastya, die 14-jährige Anführerin der kleinen Schar von Jungen, ist in der Nacht mit ihrem Kurzhaarschnitt nicht gleich eindeutig als Mädchen zu erkennen. Diese Szenen wirken beinahe harmlos, sie könnten im Prinzip überall auf der Welt stattfinden, auch in Deutschland. Durch die folgenden Szenen erhalten sie aber eine völlig andere Bedeutung – und diese verändert sich nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 noch ein weiteres Mal.

Denn die Kinder, die der Dokumentarfilm begleitet, leben in der ukrainischen Stadt Torezk im Donbass, einer vom Kohlebergbau über zwei Jahrhunderte hinweg geprägten Industrieregion unweit der Grenze zu Russland, 82 km nördlich von Donezk. Diese Region ist seit 2014 Kriegsgebiet, wobei sich russisch-separatistische und ukrainische Kräfte gegenüberstehen. Als Sechsjährige musste Nastya erleben, wie eine von Terroristen abgefeuerte Rakete am Silvesterabend ihr Elternhaus zerstörte, das ganze Dorf verwüstete und ihr Vater starb. Seitdem kümmert sich das Mädchen so gut es geht um ihren jüngeren Bruder. Fast emotionslos führt Nastya das Kamerateam um den Regisseur Taras Tomenko durch die Ruinen ihres Elternhauses und erklärt, wie es dort vor dem Angriff ausgesehen hat. Tomenko, der auch das Drehbuch schrieb und Nastya auf ihren Streifzügen durch ein verwüstetes Land begleitet, hatte an der Nationalen Universität für Theater, Film und Fernsehen in Kiew und an der Nationalen Taras-Schewtschenko-Universität studiert und mit seinem Kurzfilm „Tyr“ bereits 2001 an der Berlinale teilgenommen.

Überall sind die Spuren des Kriegs deutlich zu erkennen, mit vollkommen zerstörten oder zumindest unbewohnbar gewordenen Häusern, auch wenn diese Bilder längst noch nicht an die der totalen Zerstörung ganzer Stadtteile heranreichen, die das Fernsehen nach den gezielten Angriffen auf die Zivilbevölkerung nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine liefert. Gezielt durchsuchen die Kinder die Ruinen nach noch brauchbaren Materialien, insbesondere nach Altmetall. Mühsam schleppen sie das sperrige Zeug zu einem Altmetallhändler, um damit etwas Geld zum Überleben zu verdienen. Doch die meisten weigern sich, Altmetalle von Kindern anzukaufen. Unverrichteter Dinge ziehen sie daher schwer beladen weiter, bis sich einer dann doch bereit erklärt, sich ihrer zu erbarmen.

Meistens halten sich die Kinder im Freien auf, wobei ein trüber Dunstschleier über der Landschaft liegt. Die grau-schwarzen Abraumhalden der Kohleförderung dienen ihnen als Spielplatz, während unablässig Lkws neuen Abraum abladen und Planierraupen die Haufen sogleich wieder einebnen. Auf diese Szenerie nimmt der Film mit seinem Titel Bezug, denn Terykony ist das ukrainische Wort für Haufen. Und genauso trostlos und grau wie diese Haufen, die allein schon aus ökologischer Perspektive und wegen der radioaktiven Strahlung alles andere als zukunftsweisend sind, erscheint auch das Leben dieser Kinder. Sie sind von den Auswirkungen des Krieges sehr unmittelbar betroffen und das hat Spuren in ihren Gesichtern und ihrem Verhalten hinterlassen. Zugleich ist ihre Resilienz zu bewundern, denn immer wieder gibt es Momente, in denen sie einfach nur Kind sein und spielen wollen. Und einen kleinen Funken Hoffnung scheint ihnen wohl auch der Glaube zu geben. So endet der Film nicht zufällig mit der ausführlich ins Bild gerückten Teilnahme Nastyas an einem orthodoxen Gottesdienst, wobei die diskret geführte Kamera auch hier zum stillen, aber sehr genau registrierenden Beobachter wird.

Einen großen Anteil am positiven Gesamteindruck des Films hat die Filmmusik der ukrainischen Performancekünstlerin und Musikwissenschaftlerin Alla Sahajkewytsch. Mit der Identifikationsfigur Nastya vermittelt der Film auch einem jungen Publikum anschaulich ohne grausame Bilder oder Schockmomente, was Krieg bedeutet.

Holger Twele

© goEast
10+
Dokumentarfilm

Terykony/Boney Piles - Ukraine 2022, Regie: Taras Tomenko, Festivalstart: 24.04.2022, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 10 Jahren, Laufzeit: 81 Min. Buch: Taras Tomenko. Kamera: Misha Lubarsky. Musik: Alla Sahajkewytsch. Schnitt: Viktor Malyarenko. Produktion: Volodymyr Filippov, Alla Ovsyannikova, Andriy Suyarko, Oleksandr Kovalenko. Verleih: offen. Mitwirkende: Nastya, ihr Bruder und viele weitere, vor allem junge Bewohner*innen der ukrainischen Stadt Torezk

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