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Tonspuren

Entdeckt bei der Berlinale Kplus: Was sollen diese Töne nur bedeuten? Und wer schickt sie? Ana setzt alles daran, die Botschaft zu entschlüsseln.

Spannung lässt sich auch im Kinderfilm keineswegs nur durch besonders dramatische Ereignisse oder Action erzeugen. Wie es auch anders geht, zeigt die junge argentinische Drehbuchautorin und Regisseurin Ingrid Pokropek in ihrem Debütfilm, in dem unvorhersehbare oder scheinbar unerklärbare mysteriöse Ereignisse mit einer vergleichsweise ruhigen Erzählweise gepaart werden. Hier sind es die Musik und seltsame Töne in Dur, die der Hauptfigur Ana gehörig zu schaffen machen.

Fast beiläufig erfahren wir, dass Ana vor einigen Jahren einen Unfall hatte, bei dem ihre Mutter offenbar ums Leben kam. Die Trauer um diese belastet die 14-Jährige, auch wenn jene Thematik nie in den Vordergrund und der Unfall nie ins Bild rückt. Nach Letzterem wurde Ana eine Metallplatte in den linken Unterarm eingesetzt, damit die Knochen besser verheilen. Mit dieser unter der Haut geht allerdings auch etwas ziemlich Kurioses einher: Ana kann plötzlich unregelmäßige Töne empfangen. Zuerst denkt sie, das Gehörte sei ihr Herzschlag. Doch schon bald stellt sie fest, dass die Töne ihr scheinbar eine Botschaft übermitteln wollen. Möchte die verstorbene Mutter auf diese Weise etwa Kontakt mit ihr aufnehmen?

In ihrer lebhaften Fantasie malt sich Ana, die mit ihrem Vater gerne Science-Fiction-Filme sieht, zunächst aus, die Botschaft könne von Außerirdischen stammen, die gerade auf der Erde gelandet sind. Als sie ihrer besten Freundin Lepa ihr kleines Geheimnis anvertraut, versucht diese, die Frequenzen aus der Metallplatte in Töne und dann in ein Musikstück zu übersetzen. Aber auch die „Herzschlag-Melodie“, wie Lepa sie nennt, hilft Ana nicht weiter, die Botschaft und wer diese sendet, bleiben ihr verborgen. Doch schon bald kommt sie dem Geheimnis ein Stück näher!

Bei einem Planetariumsbesuch mit ihren Freundinnen fühlt sich die noch kindliche Ana ausgeschlossen, als die anderen plötzlich mit Jungs herumknutschen. So macht sie sich allein auf den Rückweg und landet spät in der Nacht in einer Pizzeria, um etwas zu essen und zu trinken. Gedankenverloren schlägt sie die Töne aus ihrem Unterarm mit einem Besteck an ein Glas, als sich am Nebentisch plötzlich ein junger Rekrut in Uniform erstaunt zu ihr umdreht. Er interessiert sich brennend für die Entschlüsselung von Zeichen und erklärt ihr, dass es sich bei diesen Tönen eindeutig um Morsezeichen handelt, die „Vergiss mich nicht!“ bedeuten. Dieses Erlebnis markiert den Ausgangspunkt für viele weitere Recherchen, Erkundungen und Theorien Anas über die eigentliche Bedeutung der Morsezeichen. All diese Interpretationsmöglichkeiten machen den besonderen Reiz von „Tonspuren“ aus.

In ihrem unkonventionellen Coming-of-Age-Film, der dem klassischen Thema Verlust eines Elternteils völlig neue Facetten abgewinnt, verarbeitet Ingrid Pokropek viele biografische Elemente aus ihrer eigenen Kindheit. Etwa die enge Beziehung zum Vater, der im Film in einer kleinen Nebenrolle als nerviger Partygast auftaucht. Oder die Begegnung mit Kunst und Künstler*innen, das Interesse für Morsezeichen oder die Faszination der Großstadt Buenos Aires, deren Gefahren ihr in Anas Alter noch nicht bewusst waren. So hat auch Ana in ihrer Mischung aus kindlicher Unbefangenheit und unbändiger Neugier nur wenig Scheu, sich dem Rekruten Pablo anzuvertrauen. Und sie weiß sich gut zu helfen, als ein Taxifahrer sie mitten in der Nacht an der Stadtgrenze absetzt, die er nicht überschreiten möchte und sie damit nötigt, die letzte Wegstrecke zu Fuß zu gehen. All das sind fast beiläufig erzählte Episoden, denn der Fokus des Films liegt ganz auf zwischenmenschlichen Beziehungen, wobei Ana selbst zur Antenne wird. Denn sie spürt und erahnt das, was oft „zwischen den Zeilen“ steht. Ihre Fähigkeiten machen sie besonders empfänglich für die geheimnisvolle Botschaft, deren Auflösung trotz eines angedeuteten Happy Ends eher nonverbal erfolgt und weiterhin Spielraum für Interpretationen lässt.

Bei der Berlinale 2024, wo der Film seine deutsche Erstaufführung im Wettbewerb Generation Kplus hatte, zeigte sich, dass jüngere Kinder dem ab 10 Jahren empfohlenen Film zwar gespannt folgten, einige Details und insbesondere das offene Ende aber nicht genau verstanden. Das mag weniger ihrem Alter als konventionellen Seherfahrungen geschuldet sein, die auf scheinbare Eindeutigkeiten abzielen. „Tonspuren“ bedient diese nicht und setzt stattdessen ausschließlich darauf, zu berühren und Neugier zu wecken.

Holger Twele

Diese Kritik wurde im Rahmen der Berichterstattung über die Aufführung des Films bei Generation Kplus 2024 verfasst.

© Gong Cine / 36 Caballos
10+
Spielfilm

Los Tonos Majores - Argentinien, Spanien 2024, Regie: Ingrid Pokropek, Festivalstart: 19.02.2024, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 10 Jahren, Laufzeit: 101 Min., Buch: Ingrid Pokropek, Kamera: Ana Roy, Musik: Gabriel Chwojnik, Schnitt: Miguel de Zuviría, Produktion: Gong Cine (Buenos Aires), 36 Caballos (Buenos Aires), Jaibo Films (Alicante), Verleih: offen, Weltvertrieb: Bendita Film Sales, Spanien, Besetzung: Sofía Clausen (Ana), Pablo Seijo (Javier), Lina Ziccarello (Lepa), Mercedes Halfon (Mariana), Santiago Ferreira (Pablo), Walter Jakob (Alfonso) u. a.

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