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Der Junge und der Reiher

Nichts erwartbar. Alles möglich. Hayao Miyzaki öffnet wieder einmal die Pforten seiner Fantasiewelt.

Keine Synopse, keine Bilder, kein Trailer. Nur der Filmtitel und ein kryptisches Plakat. Und eben der Name des Regisseurs: Hayao Miyazaki. Ein Name als Label und Versprechen. So ist „Der Junge und der Reiher“ im Juli 2023 in Japan im Kino gestartet. Und tatsächlich tut man nun auch hier – obgleich mittlerweile ein paar Werbematerialien vorliegen – am besten daran, sich einfach frei auf das Alterswerk des legendären Anime-Regisseurs einzulassen, diese immense zusammengesponnene Geschichte, in der nichts erwartbar und alles möglich ist.

„Der Junge und der Reiher“ – in französischen oder skandinavischen Kinder- und Jugendfilmen wäre das vermutlich der klassische Titel für eine Tierfreundschaftsgeschichte. Nicht so hier. Der Film beginnt im Krieg, kurz nach einem Fliegerangriff auf Tokio etwa im Jahr 1943. Ein Krankenhaus steht in Flammen, darin auch die Mutter des zwölfjährigen Mahito. Er versucht, sie zu retten, rennt durch chaotische Straßen und Menschenmengen, die Leinwand brennt, er schafft es nicht.

Der Filmanfang ist ein Brett, verwurzelt in der grausamen Realität. Die Szenen erinnern an den deprimierenden Studio-Ghibli-Klassiker „Die letzten Glühwürmchen“ von Isao Takahata (1988) und ein wenig an Miyazakis „Porco Rosso“. Aber das ist nur der Erzählrahmen. Der fantastische Teil der Handlung setzt ein Jahr später ein. Mahito zieht mit seinem Vater aufs Land. Dieser hat mittlerweile wieder geheiratet – ausgerechnet Natsuki, die jüngere Schwester von Mahitos Mutter, die dieser wie aus dem Gesicht geschnitten aussieht. Der Junge weiß nicht so recht, was er davon halten soll. Zudem erwartet Natsauki ein Baby. Mahito zieht sich erst einmal zurück. Doch als Natsuki, die gerade durch die Schwangerschaft sehr geschwächt ist, eines Tages plötzlich verschwunden ist, zögert auch Mahito nicht und macht sich auf die Suche nach ihr. Diese führt ihn in eine Höhle, wo ihn ein merkwürdiger sprechender Graureiher, den Mahito zuvor schon einmal vor seinem Fenster gesehen hat, mit einem finsteren Versprechen in eine Art Unterwelt lockt. Dort würde er seine Mutter wiedersehen, die gar nicht tot sei. Der Gedanke ist zu schön – Mahito lässt sich darauf ein und erkennt, dass er einer Täuschung auf den Leim gegangen ist.

Was in der Unterwelt geschieht, ist ein purer Trip in Miyazakis blühende Fantasie. Attackierende Kröten gibt es dort, gefräßige Pelikane, eine anthropomorphe Wellensichtarmee, aber auch junge Seelen und eine Seefahrerin namens Himi, die Mahito Schutz bietet. All diese in „Gute“ und „Böse“ einzuteilen ist müßig. Wie in Animes üblich greift diese vereinfachende Dichotomie hier nicht. Die Welt ist komplex; die Figuren sind es dementsprechend auch. Den Reiz dieser Reise durch diese magische Welt macht auch aus, dass kaum etwas vorhersehbar ist und jede Szene mit einer neuen Überraschung aufwartet. Die Welt ist ein wenig so wie das Badehaus der Götter aus Miyazakis Klassiker „Chihiros Reise ins Zauberland“ (2001), in dem sich auch ein kurioses Figurenensemble versammelte.

Überhaupt wirkt „Der Junge und der Reiher“ wie „Miyazaki in a nutshell“, eine komprimierte Zusammenstellung und Variation nahezu all der großen Themen, die ihn im Laufe seiner bisherigen Werke als Regisseur und Manga-Autor und -Zeichner (sein Comic „Shunas Reise“ ist erst 2023 auf Deutsch erschienen) beschäftigt haben. Menschliche Konflikte und Kriege spielen eine tragende Rolle (wenngleich nur im Hintergrund), eine kranke Mutter taucht auf – womit Miyazaki immer wieder einen biografischen Bezug in seine Geschichten einbaut –, Figuren wandeln sich und sind im wahrsten Sinne des Wortes doppelgesichtig, es gibt Begegnungen mit dem Monströsen und im Kern mindestens ebenso um eine innere Reise wie um eine äußere. Je weiter Mahito vorankommt, um Natsuki zu suchen, desto reifer wird er. Die Fantasiewelt konfrontiert ihn noch einmal mit der Trauer um seine Mutter, zeigt ihm aber auch Chancen für die Zukunft.

„Wie willst du leben?“ lautet der Titel von „Der Junge und der Reiher“ im Original. Damit bezieht sich Miyazaki auf den gleichnamigen Roman von Genziro Yoshino, der ihn sehr geprägt hat und der von der Entwicklung eines 15-jährigen Jungen erzählt. Nur grobe Ideen hat Miyazaki aus dem Buch übernommen – und sie in seinen Kosmos übertragen. So steht diese grundsätzliche Frage auch hinter der ganzen Geschichte und fordert eine Positionierung ein: Welche Werte sind dir wichtig? Wie stellst du dir ein gutes Leben vor? Mahito findet seine Antworten.

Dass die Bewahrung der Umwelt nicht im Zentrum steht, ist angesichts der gegenwärtigen Brisanz des Themas fast schon überraschend. Aber Miyazaki hat sich schließlich damit schon vor 30 Jahren auseinandergesetzt. Geblieben sind davon die großen Bilder, die auf ihre eigene Art die Schönheit der Natur sichtbar und die Kräfte der Elemente Luft, Wasser und Feuer spürbar machen.

Stefan Stiletto

© Studio Ghibli 2023
12+
Spielfilm

Kimitachi wa dô ikiru ka - Japan 2023, Regie: Hayao Miyazaki, Kinostart: 04.01.2024, FSK: ab 12, Empfehlung: ab 12 Jahren, Laufzeit: 124 Min. Buch: Hayao Miyazaki. Kamera: Atsushi Okui. Musik: Joe Hisaishi. Schnitt: Rie Matsubara, Takeshi Seyama, Akane Shiraishi. Produktion: Toshio Suzuki. Verleih: Wild Bunch.

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