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Georgie

Entdeckt beim Schlingel und bei „Lucas“: Georgie ist rotzfrech, selbstbewusst, schwierig – und allein. Eine tolle Hauptfigur!

Wenn Minderjährige und Halbwaisen den Tod ihrer engsten Angehörigen in einem Spielfilm für ein junges Publikum verschweigen, geschieht das nicht etwa, um den Sozialstaat zu betrügen, sondern ausschließlich aus Angst davor, in ein Heim gesteckt zu werden. So ist das auch bei der zwölfjährigen Georgie, die in einem bunt angestrichenen Reihenhaus irgendwo in Großbritannien wohnt. Nach dem Tod der geliebten Mutter gelingt es ihr, das eigene Lebensumfeld trickreich zu täuschen. Angeblich lebt sie nun bei ihrem Onkel, der durch fingierte Tonaufnahmen, die Georgie am Telefon abspielt, zum Leben erweckt wird. Der Vater hat die Familie nach Darstellung der Mutter verlassen, als Georgie noch ganz klein war. Ihren Lebensunterhalt sichert sich das selbstbewusste, gegenüber Fremden aber sehr verschlossene Mädchen, das zudem auf eine Hörhilfe angewiesen ist, durch Fahrraddiebstähle. Unterstützung findet sie in ihrem einzigen Freund Ali, der einen Kopf größer und wohl auch schon etwas älter ist als sie. Ihm kann sie sich voll anvertrauen und gemeinsam denken sie sich immer neue Spiele aus, etwa indem sie die Fernsehwerbung persiflieren oder Leute beobachten und sich dazu Geschichten ausdenken.

Eines Tages steht plötzlich Jason vor der Tür, der kaum 30 Jahre alt ist und sich als ihr Vater ausgibt. Georgie möchte nichts von diesem Mann wissen, zumal sie ihrem Vater nicht verzeihen kann, dass er damals einfach verschwunden ist und seitdem nie mehr etwas von sich hören ließ. Gemeinsam mit Ali stellt sie sich vor, er könne ein Vampir oder gerade erst aus dem Gefängnis entlassen worden sein. Kurzerhand sperrt sie Jason aus. Dieser lässt sich davon nicht abschrecken, er droht ihr mit dem Sozialamt, setzt anderseits alles daran, ihr Vertrauen zu gewinnen und seine Vaterrolle ernst zu nehmen. Sogar Ali gelingt es nicht, sie davon zu überzeugen, sich dennoch auf Jason einzulassen, zumal sie auf Dauer wohl nicht alleine leben kann. Nur schrittweise und nach zahlreichen Rückschlägen scheint der komplizierten Vater-Tochter-Beziehung eine Zukunft beschieden, bis Jason plötzlich verschwunden ist und Georgie von einem lange gehüteten Geheimnis erfährt.

Die 1994 in London geborene Regisseurin Charlotte Regan, die bei ihrer Mutter und ihrer Großmutter aufgewachsen ist, drehte vor ihrem Langspielfilmdebüt bereits mehr als 200 Musikvideos aus der Rapper-Szene und einige Kurzfilme. Der englische Originaltitel „Scrapper“ verweist in unmittelbarem Sinn auf Georgies „Erwerbstätigkeit“, gestohlene Fahrräder vor dem Verkauf umzuspritzen und teilweise zu demontieren. Man kann den Titel aber auch eher symbolisch deuten, indem eine wünschenswerte Vater-Tochter-Beziehung erst einmal von allen Illusionen und Erwartungshaltungen befreit werden muss, um aus den Überbleibseln etwas vollkommen Neues entstehen zu lassen.

Nicht nur in dieser Hinsicht verlässt der Film eingefahrene Gleise des Kinder- und Jugendfilms. Auch in der Personenkonstellation geht er einige Wagnisse ein. Der Vater ist gerade mal so alt wie Georgie und Ali zusammen. Obwohl seine Vergangenheit weitgehend im Dunkeln bleibt, wird er an keiner Stelle als herzloser Vater gezeigt, der aus blankem Egoismus die Familie verlassen hat, kein Interesse an seiner Tochter hatte und erst spät lernt, Verantwortung zu übernehmen. Ungewöhnlich ist auch die Beziehung zwischen Georgie und Ali, der wie Georgie ein Außenseiter ist. Ihre gemeinsame Freizeit füllen sie mit fasst noch kindlichen Spielen und abgebrühter Professionalität. Und die von Lola Campbell grandios gespielte Georgie ist zwar niemals vollkommen unsympathisch, hat durch ihre abweisende und schroffe Art aber auch Ecken und Kanten, verhält sich Jason gegenüber ausgesprochen unsozial und schlägt aus unterdrückter Wut auch mal ein Mädchen aus der Nachbarschaft zusammen.

In drei dokumentarisch wirkenden Sequenzen kommen auch Personen aus Georgies Lebensumfeld zu Wort. Sie geben kurze Statements dazu ab, was sie von Georgie halten, ob sie sich vorstellen könnten, mit ihr befreundet zu sein und ob ihr und Jason eine gemeinsame Zukunft beschieden sein wird. In vielen Nah- und Großaufnahmen kommen die drei Hauptfiguren stark zur Geltung und erleichtern Identifikation. Zugleich wird die vorsichtige Annäherung zwischen Vater und Tochter visuell sehr schön gezeigt, indem sie sich unversöhnlich zuerst auf den beiden Seiten einer Straße entlang bewegen und kurze Zeit später in einer leer stehenden Lagerhalle unbeschwert miteinander spielen und sich am Ende umarmen. Ein Happy End ist das aber noch lange nicht.

Ein in jeder Hinsicht außergewöhnlicher Film, der vielleicht neue Impulse liefert, wie sich eher typische und bekannte Geschichten über familiäre Konfliktsituationen auch noch ganz neu und überraschend erzählen lassen.

Holger Twele

© Schlingel Filmfestival
12+
Spielfilm

Scrapper - Großbritannien 2022, Regie: Charlotte Regan, Festivalstart: 24.09.2023, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 12 Jahren, Laufzeit: 84 Min. Buch: Charlotte Regan. Kamera: Molly Manning Walker. Musik: Patrick Jonsson. Schnitt: Billy Sneddon, Matteo Bini. Produktion: Scrapper Film, BBC Film, BFI, Great Point Media, DMC Film. Verleih: offen. Darsteller*innen: Lola Campbell (Georgie), Alin Uzun (Ali), Harris Dickinson (Jason, Georgies Vater), Carys Bowkett (Emily), Ambreen Razia (Zeph) u. a.

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Altersempfehlung 10-13 Jahre

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