Deep Sea
Als ob man durch ein Gemälde schwimmen würde: Der Animationsfilm aus China ist wunderschön, aber auch ziemlich aufwühlend und traurig.
Ihr Smartphone ist Shenxius ein und alles. Denn darauf befindet sich der Chat mit ihrer Mutter, die vor langer Zeit die Familie verlassen und mit der sie seitdem kaum noch Kontakt hat. Und wenn ihr jemand zum Geburtstag gratuliert, dann ist das nur das Telefonunternehmen via automatisierter Textnachricht, nicht jedoch ihr Vater oder die Stiefmutter, die sich nur noch um den Baby-Bruder kümmern. Shenxiu fühlt sich verlassen und allein. Sie sehnt sich so sehr danach, ihre Mutter wiederzusehen.
„Deep Sea“ redet nicht lange um den heißen Brei herum. Schon in der ersten Szene zeigt er mit aller Wucht, wie traurig Shenxiu ist. Wir sehen sie aus nächster Nähe, im Regen, die computeranimierten Bilder sind phänomenal fotorealistisch, die Lichtstimmungen täuschend echt. Besonders schlimm ist der Schmerz des Mädchens, weil sie ihre Mutter nicht durch eine Krankheit oder einen Unfall verloren hat. Ihre Mutter wollte sie zurücklassen und verweigert nun den Kontakt nahezu vollständig. Während viele Filme für Kinder über den Umgang mit Tod und Trauer erzählen, ist diese Form der Zurückweisung doch eher selten.
Während einer Kreuzfahrt mit ihrer Familie fällt Shenxiu eine Geschichte wieder ein, die ihre Mutter ihr früher erzählt hat. Dass nämlich an ihrem Geburtstag das Meer zu ihr kommen und ihr einen Wunsch erfüllen könnte. Und genau das geschieht – nur anders als erwartet. Shenxiu wird während eines heftigen Sturms über Bord gespült, geht unter und taucht plötzlich in eine magische Welt ein. Mit Unterstützung eines mystischen Hyjinx gelangt sie an Bord eines kuriosen schwimmenden Unterwasserrestaurants, das von dem extrovertierten Nanhe geleitet wird und in dem allerlei sprechende Walrosse, Seeotter und andere Tiere leben und arbeiten. Dort findet sie Zuflucht. Doch Nanhe denkt zunächst vor allem an sich. Den Hyjinx würde er gerne als Zutat für seine Gerichte verwenden, die Suche von Shenxiu nach ihrer Mutter interessiert ihn wenig. Langsam aber wächst ihm das Mädchen doch ans Herz, das durch seine immense Traurigkeit auch das Rote Phantom anlockt und damit das Schiff in Gefahr bringt.
Spätestens ab Shenxius Ankunft im dem Unterwasserrestaurant sind die Parallelen zu Hayao Miyazakis „Chihiros Reise ins Zauberland“ (2001) nicht mehr von der Hand zu weisen. Das Restaurant wirkt wie ein Spiegelbild des Badehauses für Götter aus dem Anime. Auch hier leben allerlei merkwürdige Kreaturen, auch hier sind Menschen rar gesät. Wo Miyazaki aber seine Protagonistin nicht aus den Augen verliert, setzt Tian Xiaopeng in seinem zweiten Langfilm (nach „Monkey King: Hero Is Back“ aus dem Jahr 2015) mehr auf den Rausch der Bilder. Shenxiu wird dabei – leider – gerade in der ersten Hälfte des Films oft zur reinen Beobachterin; Nanhe hingegen ist derjenige, der lenkt und handelt. Dafür zündet Xiaopeng ein Feuerwerk der Eindrücke und schafft einen gewaltigen Strudel der Stimmungen. Als Shenxiu ins Wasser stürzt und in die Tiefe gezogen wird, scheinen die Farben zu explodieren. „Deep Sea“ fühlt sich in diesem Moment so an, als würde man durch ein farbenprächtiges Gemälde schwimmen.
Ein in vielerlei Hinsicht überbordender Film ist „Deep Sea“ geworden, der immer wieder zum Staunen bringt und sein Publikum geradezu verschlingt. Den wunderschönen Bildern aber steht eben die tieftraurige Geschichte von Shenxiu gegenüber – und diese erzählt der Film konsequent zu Ende. Manchmal ist „Deep Sea“ ein Traum, manchmal wird er zum Albtraum. Die Reise ins Unterwasserrestaurant ist eine innere Reise, deren äußere, reale Entsprechung erst nach und nach aufgelöst wird – wobei der Film auch hier nicht mit dramatischen Szenen spart.
Für ein junges Publikum kann es noch schwierig sein, sich inmitten all dieser Erzähl- und Realitätsebenen zurechtzufinden. Überhaupt ist die Handlung eine ziemliche Herausforderung. Nach den aufwühlenden Erlebnissen aber findet „Deep Sea“ auch wieder zurück zu einem versöhnlichen Ende, das viel realistischer ist, als man sich das vielleicht wünschen würde, sich aber gerade deswegen auch wahrhaftig anfühlt und auf seine eigene Art Trost spendet.
Stefan Stiletto
Shen Hai - China 2023, Regie: Tian Xiaopeng, Kinostart: 10.08.2023, FSK: ab 12, Empfehlung: ab 10 Jahren, Laufzeit: 112 Min. Buch: Tian Xiaopeng. Bildgestaltung: Cheng Mazhiyuan. Musik: Dou Peng. Schnitt: Lin Aner. Produzent: Yi Qiao. Produktion: October Media. Verleih: Leonine
Altersempfehlung 10-13 Jahre
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