Close
Wie viel Nähe ist in Ordnung zwischen zwei Freunden?
„Close“ beginnt mit der Idylle einer Freundschaft zwischen zwei 13-jährigen Jungen, die sich in der Gesellschaft des jeweils anderen am glücklichsten fühlen und keine Begriffe für ihre Beziehung zueinander brauchen. Léo (Eden Dambrine) und Rémi (Gustav De Waele), die im französischsprachigen Teil Belgiens leben, sind unzertrennlich: Tage und Nächte verbringen sie in den Sommerferien zusammen bei ihren Spielen und bei der Ernte auf den Erdbeerfeldern. Bis die Pubertät einsetzt und die beiden Jungen durch den Wechsel an eine neue Schule dazu gedrängt werden, ihre Beziehung zu erklären: „Warum seid ihr so eng beieinander? So verhalten sich doch sonst nur Mädchen. Seid ihr schwul?“ – Die Fragen und Kommentare, mit denen Léo und Rémi konfrontiert werden, legen nicht nur Erwartungen an vermeintlich (un)angemessenes Verhalten befreundeter Jungs offen, sondern verdeutlichen ebenso den Drang zu einer vereinfachenden Etikettierung. Beides etwas, das unsere Gesellschaften vorgeben. Etwas, mit dem Léo und Rémi jeweils anders umgehen. Es ist der Beginn ihrer Entfremdung.
Die Verbindung zwischen Léo und Rémi steht im Mittelpunkt von Lukas Dhonts zweitem Spielfilm. Die Nähe und Intimität der beiden konfrontieren die Zuschauenden mit ihren heteronormativen Sehgewohnheiten. Denn die Frage, ob zwischen den beiden Jungen auch eine romantische Zuneigung besteht, drängt sich erschreckend automatisch auf. Der Film hingegen, behandelt diese Frage in einer konsequent untergeordneten Rolle und schenkt damit auch dem Thema Sexualität wenig Aufmerksamkeit.
Sensibel erzählt Dhont, wie unterschiedlich Léo und Rémi darauf reagieren, dass man sie an der neuen Schule für ein Liebespaar hält. Léo etwa, indem er, plötzlich verunsichert, beginnt sich anders zu verhalten. Wenn Rémi ihn beispielsweise in der Schule berührt, weicht er zurück. Früher saßen die beiden ganz selbstverständlich am gleichen Tisch, jetzt sitzen sie jeweils auf der anderen Seite des Klassenzimmers. Auch schließt sich Léo demonstrativ anderen Jungs an und beginnt Eishockey zu spielen. In dem rauen Sport, der von der Gesellschaft als “typisch männlich” angesehen wird, bekommt er schnell Anerkennung. Aber Schutzmaske und Protektoren sind auch Sinnbild für einen Panzer, den Léo sich anlegt. Ist es ihm überhaupt bewusst, wie sehr er Rémi von seinen neuen Interessen ausschließt und Barrieren zwischen ihnen aufbaut? Passt er sich damit bewusst oder unbewusst an gesellschaftliche Erwartungen der sozialen Rolle Mann an?
Rémi jedenfalls verzweifelt daran, dass Léo sich mehr und mehr von ihm abwendet. Er wird überwältigt von seiner Hilflosigkeit, Trauer und Wut, die ihn dazu bringt, sich zunehmend zu isolieren. Damit reflektiert Lukas Dhont, wie der Gruppenzwang bereits im Schulalter das Verhalten konditioniert und eine freie, individuelle Entfaltung einschränkt. Der Austausch von Zärtlichkeiten im öffentlichen gesellschaftlichen Raum ist verdächtig, besonders zwischen Jungs. Die Blicke der Anderen treten zwischen die beiden und schüren die Furcht, nicht richtig – oder eben anders zu sein. Die Distanz wird so groß, dass sie in einer Trennung mündet, die sich nicht mehr rückgängig machen lässt. Denn während Léo zu einem Schulausflug ans Meer aufbricht, begeht Rémi allein in seinem Zimmer Suizid.
Wie genau er sich das Leben nimmt, bleibt offen. Zu diesem Zeitpunkt hat sich die Perspektive der Erzählung auf Léo konzentriert. Als der von Rémis Tod erfährt, zieht er sich ganz in sich zurück. Die Zuschauenden sehen ihn sich fragen, ob er seinen Freund durch seine Zurückweisung so verletzt hat, dass der keinen anderen Ausweg mehr sah.
Von Rémis Suizid erholt sich der Film bis zum Ende nicht. Stille Blicke zwischen entfremdeten Freunden weichen einer dramatischen Tonalität und schwerem Symbolismus, als ob der alltägliche Horror des Erwachsenwerdens selbigen braucht, um filmisch zu sein.
In „Close“ geht es um die jugendliche Suche nach Identität – um Leos überwältigende Traurigkeit, wenn er den unendlichen Möglichkeiten der Vergangenheit den Rücken kehrt, um die schuldige Last seiner Gegenwart und den weiten Weg zum Verzeihen und zur Erlösung in der Zukunft.
Eline Gehring
Übrigens: „Close“ und andere tolle Filme sind Teil des Themendossiers „Gender & Lieben“. Werfen Sie doch mal einen Blick rein.
Close - Belgien, Frankreich, Niederlande 2022, Regie: Lukas Dhont, Kinostart: 26.01.2023, Homevideostart: 30.06.2023, FSK: ab 12, Empfehlung: ab 13 Jahren, Laufzeit: 105 Min. Buch: Lukas Dhont, Angelo Tijssens. Kamera: Frank van den Eeden. Musik: Valentin Hadjadj. Schnitt: Alain Dessauvage. Produzenten: Michiel Dhont, Dirk Impens. Produktion: Menuet, Diaphana, Topkapi Films, Versus Production. Verleih: Pandora. Darsteller*innen: Léo (Eden Dambrine), Rémi (Gustav de Waele), Sophie (Émilie Dequenne), Nathalie (Léa Drucker), Peter (Kevin Janssens) u. a.
Altersempfehlung 10-13 Jahre
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