Pinocchio (2022)
Auf Disney+: Leider nur ein ziemlich hölzernes Remake des Disney-Zeichentrickklassikers.
„When you wish upon a star, your dreams come true.“ Seit dieses Lied in „Pinocchio“ (Ben Sharpsteen, Hamilton Luske, 1940) zu hören war, ist es eine Art Versprechen für den Unterhaltungskonzern Disney geworden: Hier werden Träume wahr gemacht, oder zumindest für zwei Stunden auf die Leinwand geworfen. Entsprechend klingt das Grundthema des Songs von Cliff Edwards als musikalisches Logo vor nahezu jedem Disneyfilm an. In der neuen, nunja, „Realverfilmung“ des Disney-Klassikers spielt das Lied, wie Musik überhaupt, nur noch eine geringe Rolle. Es wirkt allenfalls zitiert, wie ein Verweis auf vergangene Zeiten oder vielleicht auch wie eine Referenz auf das Disney-Imperium.
Die Handlung von Robert Zemeckis’ „Pinocchio“ orientiert sich eng am historischen Vorbild und damit wenig an Carlo Collodis literarischer Vorlage: Der alternde Handwerker Gepetto hat eine besonders schöne Marionette geschnitzt und wünscht sich vor dem Einschlafen, diese, sein Pinocchio, möge doch lebendig sein. Eine Fee erfüllt ihm singend diesen Wunsch und ernennt zugleich Jiminy Grille zu Pinocchios Gewissen – schließlich muss der Junge ja noch lernen, richtig und falsch zu unterscheiden. Vorerst aber ist Pinocchio noch kein echter Junge, kein Menschenkind – das kann er erst werden, wenn er sich als mutig, ehrlich und selbstlos bewiesen hat.
Seine Herausforderungen und Abenteuer im Theater Stromboli und auf „Pleasure Island“ sowie schließlich auf dem Meer sind vermutlich bekannt, es gibt hier in Zemeckis’ Fassung – das Drehbuch hat er zusammen mit Chris Weitz und Simon Farnaby geschrieben – einige Änderungen im Detail, aber nicht im großen Ganzen.
CGI hat die nur noch vage als „Realfilm“ erkennbaren Remakes der Disney-Animationsklassiker erst möglich gemacht, die Bandbreite der Ergebnisse reicht von recht eigenständigen Variationen wie bei „Cinderella“ (Kenneth Branagh, 2015) bis zur Shot-by-Shot-Nachahmung „Der König der Löwen“ (Jon Favreau, 2019), die eher zu einer uninspirierten Präsentation des aktuellen Stands im CGI-Bereich geriet.
„Pinocchio“ bleibt nicht so sklavisch an seiner Vorlage, versucht aber durch computergenerierte Bilder große Nähe zum Vorbild herzustellen. Pinocchio selbst bekommt mehr Detailtiefe, sein Gesicht zeigt deutlich die Maserung des Pinienholzes; aber Gepettos Haustiere Figaro und Cleo wirken wie direkt aus dem Zeichentrick importiert. Ihre Interaktionen, die im Original viel visuellen Witz ausmachen, finden bei Zemeckis allerdings praktisch nicht statt – auch diese Figuren sind dadurch vor allem pflichtschuldiges Zitat.
Viel interessanter sind die Änderungen und Ergänzungen, die Zemeckis der Geschichte hinzufügt. Strombolis Musikmaschinerie (die Begleitmusik zum aufregenden Tanz der Marionetten) und Gepettos cleverer Schalter zum Entzünden seiner Lampen bringen fast ein wenig Steampunk mit. Es gibt die junge Fabiana, deren Marionette Pinocchios Herz erwärmt, eine Surrogat-Bühnenpartnerin, womöglich ein „romantic interest“ mit expressivem Gesicht?
Aber all diese Andeutungen und Themen führen nirgendwo hin. Deutlicher wird das nur noch bei der ausführlich angedeuteten (ja doch, das ist möglich) tragischen Lebensgeschichte von Gepetto, die im ersten Teil des Films ausgebreitet wird und dann nicht mehr erwähnt wird. Sie dient wohl dazu, seiner Figur (der Tom Hanks reichlich Würde und Klapprigkeit verleiht) den Anschein von mehr Tiefe zu geben. Seine Liebe für Pinocchio wird dadurch jedoch nicht größer oder überzeugender, sondern allenfalls neurotischer: Ein Hauch von Pygmalion, von Frankenstein gar, weht durch den Film, verflüchtigt sich dann aber wieder.
Zemeckis’ „Pinocchio“ bleibt immer so nah am Film von 1940, dass man sich fast automatisch an den Abweichungen verhakt. Diese sind aber letztlich Staffage ohne große narrative Bedeutung, als würde ein altes Polstermöbel neu ausgestopft, aber wirklich bequemer wird es nicht. Nur auf „Pleasure Island“ traut sich Zemeckis ein bisschen was, hier geht es wirklich gruselig zu. Die Verwandlung in Eselskörper sieht, CGI hin oder her, mit einem realen Kinderkörper doch einfach gruseliger aus, und die bedrohlichen Schattenwesen mit leuchtenden Augen, die Luke Evans’ Kutscher bei seinem bösen Tun unterstützen, sind Stoff für Alpträume. Dies ist kein Film für kleine Kinder. Dass gleichzeitig auf der Insel der Versuchungen den Kindern nur extrem unecht aussehend animiertes „root beer“ serviert wird, steht durchaus in ironischem Kontrast zum sonstigen Treiben. Hier werden weiterhin Scheiben eingeschlagen und Uhren zertrümmert, aber zu Alkoholkonsum mag man sich nicht mehr durchringen?
Glücklicherweise fehlt der Neuverfilmung der strenge moralische Zeigefinger, der 1940 noch so überdeutlich immer wieder auf Mut, Ehrlichkeit und Selbstlosigkeit als Eigenschaften eines „echten Jungen“ verwies. Aber es gibt außer dem möglichst wilden, sehr bunten und zuletzt auch actionreichen Geschehen auf der Leinwand beziehungsweise den Bildschirmen dann auch nichts, was den Zeigefinger ersetzen könnte. Stattdessen überall nur noch Disney, Disney, Disney: Statt der vielen spielerischen Varianten, die 1940 noch zu sehen waren, bewegen Gepettos Uhren zur vollen Stunde nur noch Figuren und Intellectual Properties aus dem Maushaus – da fällt Schneewittchen in den Sarg, Dornröschen und Maleficent sind ebenso zu sehen Donald Duck, Roger Rabbit und die berühmte Anfangssequenz aus „Der König der Löwen“ (Roger Allers, Rob Minkoff, 1994).
Und dann weiß man doch nicht genau: Ist das ehrliche Ideenlosigkeit und Selbstbezüglichkeit oder doch Zemeckis’ zynischer Kommentar zur Unterhaltungsindustrie? Auf jeden Fall ist es großer bunter Aufwand für viel große Langeweile.
Rochus Wolff
Pinocchio (2022) - USA 2022, Regie: Robert Zemeckis, Homevideostart: 08.09.2022, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 10 Jahren, Laufzeit: 105 Min. Buch: Robert Zemeckis, Chris Weitz, Simon Farnaby. Kamera: Don Burgess. Musik: Alan Silvestri. Schnitt: Mick Audsley, Jesse Goldsmith. Produktion: Derek Hogue, Andrew Miano, Chris Weitz, Robert Zemeckis. Verleih: Disney+. Darsteller*innen: Tom Hanks (Gepetto), Joseph Gordon-Levitt (Jiminy Grille/Stimme), Benjamin Evan Ainsworth (Pinocchio/Stimme), Giuseppe Battiston (Stromboli), Kyanne Lamaya (Fabiana), Luke Evans (der Kutscher), Lorraine Bracco (Sofia/Stimme), Keegan-Michael Key (Honest John/Stimme) u. a.
Altersempfehlung 10-13 Jahre
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