Mein kleines Land
Entdeckt bei Generation Kplus: Das Schicksal einer kurdischen Flüchtlingsfamilie in Japan, die von der Abschiebung bedroht ist.
Der Wert von Filmen aus anderen Ländern lässt sich gar nicht hoch genug einschätzen, wenn es darum geht, über den eigenen Erfahrungshorizont und Lebensraum hinauszublicken. Dass das über mehrere Länder im Nahen Osten verteilte kurdische Volk keinen eigenen Staat besitzt und der Begriff „Heimat“ für diese Menschen etwas anders besetzt ist, dürfte inzwischen allgemein bekannt sein. Und ebenfalls, dass viele Kurd*innen aufgrund von Repressalien, Verfolgung und Kriegseinwirkungen in den vergangenen Jahrzehnten nach Deutschland geflohen sind. So gut wie unbekannt dürfte hingegen sein, dass die größte kurdische Gemeinschaft außerhalb der kurdischen Gebiete in Japan zu finden ist. Vor diesem Hintergrund spielt der Debütspielfilm der 1991 geborenen Japanerin Emma Kawawada, deren eigene Wurzeln elterlich fünf Länder umfassen, darunter Deutschland, den Iran und Russland. So gesehen ist Sarya, die 17-jährige Hauptfigur ihres Films, ihr Alter Ego, das ähnliche Erfahrungen gemacht hat. Auf diesen Film hat Emma Kawawada vier Jahre hingearbeitet und dafür auch viele Interviews mit Menschen geführt, deren Wurzeln ebenfalls nicht in Japan liegen.
Bereits als Kind kam die kurdischstämmige Sarya nach Japan. Sie hat noch eine jüngere Schwester und einen jüngeren Bruder, um den sie sich sorgt, wenn der Vater bei der Arbeit ist. Er musste damals fliehen, weil er sich kritisch gegenüber dem Regime äußerte und ihm die Verhaftung drohte, was er aber nur schwer beweisen kann. Nach mehreren Jahren beherrscht Sarya die japanische Sprache so gut, dass sie regelmäßig anderen Menschen bei Übersetzungen hilft. Später möchte sie Grundschullehrerin werden. Mit ihren guten Noten hat sie beste Chancen für das College. Und auch sonst ist sie längst voll in die japanische Gesellschaft integriert, hat viele Freund*innen und in ihrem japanischen Mitschüler Sota auch einen Verehrer, der sich nachhaltig um sie bemüht. Ihre Situation ändert sich schlagartig, als der Familie der Flüchtlingsstatus entzogen wird und sie jederzeit mit einer Abschiebung rechnen muss. Das Studium rückt für Sarya damit in unerreichbare Ferne. Ihren Job als bislang äußerst willkommene Aushilfe in einem Laden ist sie ebenfalls los, selbst wenn der Besitzer das sehr bedauert. Schlimmer noch ist, dass der Vater als Bauarbeiter offiziell nicht mehr arbeiten darf. Als er es dennoch tut, um das Geld für den Lebensunterhalt zu verdienen, wird er als Illegaler verhaftet und kommt ins Gefängnis. Damit nach einem neuen Erlass der Regierung wenigstens seine Kinder eine Zukunft in Japan haben, müsste der Vater sich opfern und alleine dorthin zurückkehren, wo ihm der sichere Tod droht.
Obwohl Sarya und ihre Familie sich längst integriert fühlen und Japan als ihr neue Heimat betrachten, wissen sie nicht, wo sie eigentlich hingehören und was ihr Zuhause sein wird. Mit ihrem einfühlsam und in ruhigen Bildern erzählten Film, der sich ganz auf seine Protagonist*innen einlässt und ihnen viel Raum lässt, möchte die Regisseurin ihre japanischen Landsleute auf Schicksale wie dieses aufmerksam machen, die dort offenbar bisher noch wenig bekannt sind. Und auch einem deutschen Publikum könnte die doppelt gebrochene Perspektive von kurdischen Schicksalen in einem fernen Einwanderungsland die Augen womöglich eher öffnen als dieselbe Problematik aus rein deutscher Perspektive, wie sie in deutschen Produktionen schon wiederholt zu sehen war. Seine Premiere hatte der Film auf der Berlinale in der Sektion Generation Kplus, was insofern überrascht, als die nahezu in jeder Szene präsente Hauptfigur Sarya im Film bereits 17 Jahre alt ist und der jüngere Bruder nur eine Nebenrolle spielt. Rundum überzeugend verkörpert wird sie von der in Japan geborenen Lina Arashi mit zahlreichen ausländischen Wurzeln. Zur inneren Authentizität des Films trägt bei, dass es sich bei ihrer Filmfamilie tatsächlich um ihre echte Familie handelt, in der gesamten Besetzung daher ein Glücksfall für den Film.
Holger Twele
My Small Land - Japan, Frankreic 2022, Regie: Emma Kawawada, Festivalstart: 12.02.2022, FSK: keine FSK-Prüfung, Empfehlung: ab 12 Jahren, Laufzeit: 114 Min. Buch: Ema Kawawada. Kamera: Hidetoshi Shinomiya. Musik: Roth Bart Baron. Schnitt: Shinichi Fushima. Produktion: GAGA. Verleih: offen. Darsteller*innen: Daiken Okudaira (Sota), Lina Arashi (Sarya) und weitere Mitglieder ihrer Familie
Altersempfehlung 10-13 Jahre
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