100 Kilo Sterne
Entdeckt beim Schlingel: Eine stark übergewichtige Teenagerin leidet unter ihrem Gewicht. Wie soll sie mit dieser Figur Astronautin werden?
Ist Nahrungsverweigerung wirklich die richtige Lösung? Die 16-jährige Loïs hungert, bis sie umfällt. Schon zum dritten Mal ist sie in der Schule ohnmächtig geworden. Aber nicht, weil sie zu dünn wäre. Mit ihren 100 Kilo ist Loïs nun wahrlich kein Leichtgewicht. Weil sie mit ihrer Figur aber nie ihren Traum verwirklichen können wird, Astronautin zu werden, hat Loïs beschlossen, von nun an einfach nichts mehr zu essen. Dann müssen die Pfunde doch purzeln, oder?
Loïs steht in Unterwäsche auf der Waage und wir sehen ihren fülligen Körper, mitsamt der Dehnungsstreifen, die sich über ihren Bauch spannen. Das ist eine mutige Filmeinstellung, vor allem von der jungen Hauptdarstellerin Laure Duchêne, die sich sehr verletzlich und schutzlos der Kamera preisgibt. Nicht nur in dieser Szene, sondern im weiteren Verlauf werden wir ihr sehr nahe auf den Leib rücken, genauso wie ihrer Mutter, die wegen ihres Übergewichts schon so einige chirurgische Versuche unternommen hat, um der Fettleibigkeit Herr zu werden.
Manchmal füllen die Rundungen der Frauen fast die ganze Leinwand aus, nie aber ist der Film diskreditierend oder voyeuristisch. Im Gegenteil, in einer begeisterten Liebeserklärung schwärmt Loïs Vater von den Bergen, Tälern und Wellen, in denen er sich gerne bei seiner Frau verliert. Für die Tochter zwar ein ziemlich peinlicher, wohl aber entscheidender Dialog, der sie darin bestärkt, dass es nicht auf Äußerlichkeiten ankommt, sondern auf die inneren Werte – das klingt banal, aber genau diese eigene Akzeptanz muss Loïs lernen. Dabei helfen ihr die drei Zimmergenossinnen, bei denen sie in der Klinik landet, nachdem sie wieder einmal umgekippt ist. Von hier gibt es zunächst kein Entrinnen und Loïs sitzt fest. Eine Katastrophe, beginnt doch in wenigen Tagen der wichtige Wettbewerb im Raumfahrtzentrum Toulouse, auf den sie sich schon so lange vorbereitet hat und den sie keinesfalls verpassen darf.
Ihre drei neuen Freundinnen kann sie von ihrer Mission überzeugen und da schließlich jede der anderen ebenfalls allen Grund hat, aus der Klinik wegzukommen, planen sie gemeinsam die Flucht. Da ist die magersüchtige Amelie, die schon rein optisch den antagonistischen Part zu Loïs übernimmt und ihr bei der Verwirklichung ihrer Vision emotional zur Seite steht. Sarah, genannt Stannah, sitzt im Rollstuhl und hatte versucht, sich umzubringen. Die vierte im Bunde ist Lucine, ein verstörtes Mädchen, das panische Angst vor Elektrosmog hat und unter Elektrosensibilität leidet.
So unterschiedlich die einzelnen Probleme, so kreativ ist die Truppe, als sie sich gemeinsam auf den Weg begibt, um mit Loïs zum Wettbewerb zu fahren. Eine Reise per Anhalter und gestohlenem Auto, die die jungen Frauen noch enger aneinander schweißt und auf der die grundsätzlichen Fragen ihrer besonderen Charaktere und Aussehen diskutiert werden. Hätte Stannah lieber den dicken Po von Loïs oder den dünnen von Amelie – das wäre ihr vollkommen egal, käme sie nur aus diesem Rollstuhl heraus. Lucine ist nur mitgekommen, um in einer Höhle ohne elektrische Energiefelder ihre Ruhe zu finden, aber im entscheidenden Moment folgt sie dann doch den neuen Freundinnen. So geht es ständig auch um Perspektivwechsel, um die Bereitschaft, sich in andere hineinzuversetzen, und damit den Blick gleichzeitig auf sich selber zu richten und sich zu akzeptieren, wie man ist. Für keine der Protagonistinnen eine leichte Übung, wissen sie doch, dass sie nur sehr begrenzt die Möglichkeit haben, an ihrer Situation etwas zu ändern. Loïs hat wie ihre Mutter und die Geschwister einen genetischen Defekt, der es ihr unmöglich macht, schlank zu werden, Stannah kann ihrem Rollstuhl nicht entfliehen und auch die beiden anderen sind gefangen in ihren Obsessionen.
Die Regisseurin Marie-Sophie Chambon, die mit „100 Kilo Sterne“ ein beeindruckendes Debüt vorlegt, will kein vorgetäuschtes Happy End oder eine „Heilung“ der Teenagerinnen zeigen. Stattdessen beweist sie, dass Freundschaft Berge versetzen kann und eine Unbeschwertheit ins Leben bringt, die jede für sich allein nie errungen hätte. In einer wunderbaren animierten Szene steigen die vier leicht und beschwingt zu den Sternen auf, schwebend erobern sie den Himmel. Nun wissen sie, dass sie immer füreinander da sein werden und Loïs realisiert, dass noch andere Berufe außer Astronautin für sie in Frage kommen – das Weltraumzentrum ist voll von ungeahnten Möglichkeiten für ein Physik-Genie wie sie es ist.
Katrin Hoffmann
100 kilos d'étoiles - Frankreich 2018, Regie: Marie-Sophie Chambon, Festivalstart: 10.10.2019, FSK: ab 12, Empfehlung: ab 12 Jahren, Laufzeit: Min., Buch: , Kamera: , Schnitt: , Musik: , Produktion: , Verleih: , Besetzung: Laufzeit: 88 Min. Buch: Marie-Sophie Chambon, Anaïs Carpita. Kamera: Yann Maritaud. Musik: Alexandre De La Baum. Schnitt: Julie Dupré. Produktion: Diane Jassem, Céline Chapdaniel. Verleih: offen. Darsteller*innen: Laure Duchêne (Loïs), Angèle Metzger (Amelie), Pauline Serieys (Sarah), Zoé de Tarlé (Lucine), Philippe Rebbot (Vater), Isabelle de Hertogh (Mutter) u. a.
Altersempfehlung 10-13 Jahre
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