Die Götter von Molenbeek – Aatos und die Welt
Ein bemerkenswerter Dokumentarfilm über drei Kinder und ihre Verortung in der Welt – als Kurz- und Langfilm.
Noch vor dem offiziellen Kinostart erhielt eine 25-minütige Kurzfassung dieses Dokumentarfilms von der „Selbst.Los! Kulturstiftung – Annelie und Wilfried Stascheit“ den Preis für den besten fremdsprachigen Kinderdokumentarfilm bei „doxs!“, dem Festival für Dokumentarfilme für Kinder und Jugendliche in Duisburg. Auch wenn sich die folgende Filmbesprechung vor allem auf die Langfassung im Kino bezieht, bieten sich reizvolle Vergleiche der beiden Fassungen an. Und damit auch ein Diskussionsbeitrag darüber, ob und warum es mitunter sinnvoll sein kann, Kurzfassungen eines Dokumentarfilms speziell für ein junges Publikum herzustellen, selbst wenn dadurch nahezu zwangsläufig Feinheiten verloren gehen.
Das Langfilmdebüt der finnischen Filmemacherin Reetta Huhtanen ist in jeder Hinsicht bemerkenswert. Es ist einer der wenigen aktuellen Filme, in denen die Kamera über einen längeren Zeitraum hinweg ohne Kommentare oder Interviews Kinder in ihrem Alltag beobachtet und sich nicht früher oder später das Gefühl einstellt, alles sei gar nicht authentisch und vielmehr inszeniert worden – zumindest gilt das für die Langfassung. Bemerkenswert ist auch, dass die Filmemacherin selbst kaum ein Wort Französisch konnte, die vor allem französisch sprechenden Kinder bei den Dreharbeiten von ihr also nicht zu verstehen waren und sie sich ganz auf das konzentrierte, wie diese miteinander umgehen und was ihr die nur in der Langfassung im Hintergrund mehrfach eingebundenen Eltern an Informationen gaben. Erst für die Montage wurde das insgesamt 55-stündige Rohmaterial übersetzt.
Im Mittelpunkt stehen drei Kinder aus dem multikulturellen, stark muslimisch geprägten Brüsseler Stadtteil Molenbeek: der sechsjährige Aatos, der Neffe der Filmemacherin, der sich trotz seines jungen Alters sehr für philosophisch-existenzielle Fragen interessiert, sowie sein Freund Amine, ein Moslem, der im selben Haus wohnt, und seine Klassenkameradin Flo. Letztere fühlt sich eher der Natur als einem Gott verbunden, denn sie ist der festen Überzeugung, „wer an Gott glaubt, wird verrückt“. Aatos beschäftigt die Frage nach Gott sehr, wobei er nicht nur an den Gott des Christentums und an seinen Sohn Jesus denkt, sondern sich nicht minder für die griechische Mythologie, den Wassergott Poseidon und den nordischen Gott Thor interessiert. Seinen Freund Amine beneidet er etwas um seinen festen Glauben an einen einzigen Gott, an Allah. Regelmäßig besucht er mit ihm die Moschee – was leider nur in der Langfassung deutlich zum Ausdruck kommt und als Episode in der Kurzfassung etwas bemüht wirkt. Er erlernt die arabische Schrift, stellt Anime immer wieder Fragen zu seiner Religion und seinem Glauben, macht sich aber auch einen Spaß daraus, ihn mit der Behauptung zu verunsichern, in der gerade gegessenen Pizza sei Schweinefleisch enthalten. Warum es den Moslems verboten sei, Schweinefleisch zu essen, kann Amine gleichwohl nicht genau sagen.
Ursprünglich kam Reetta Huhtanen die Idee zu diesem Film durch die vielen Geschichten ihrer in Brüssel lebenden Schwester über ihren Sohn Aatos, einen aufgeweckten Jungen, der im Spiel seiner Kindheit ganz verhaftet ist, aber zugleich grundsätzliche philosophische Fragen an die Welt stellt. Seine beiden Freunde Amine und Flo stehen ihm nicht nach, wobei die naturverbundene Flo sich besonders an der Praxis orientiert. Sie nimmt bei einem Ausflug in den Wald auch schon mal einen Frosch in den Mund, statt ihn wie im Märchen vorgesehen nur zu küssen, während Aatos vor allem an den möglichen ethischen Konsequenzen dieser Mutprobe Interesse zeigt.
Eine unerwartete Wendung nimmt dieser oft sehr amüsante Film, der völlig ungezwungen eine kindliche Suche nach „Wahrheit“ dokumentiert, als noch während der Dreharbeiten 2016 der Terroranschlag in Brüssel passiert und Molenbeek in den Medien als eine Brutstätte radikaler Dschihadist*innen bezeichnet wird. Der Freundschaft zwischen Aatos, Amine und Flo schadet das nicht, aber die Ratlosigkeit, ihr Ringen um Verständnis und ihre Besorgnis spiegeln sich deutlich in ihren Gesichtern. Noch mehr in ihren Spielen, in denen sie die Erfahrungen allgegenwärtiger Polizei- und Militärpräsenz, Taschendurchsuchungen, Demonstrationen und Trauerkundgebungen gemeinsam zu verarbeiten suchen. Hier finden sich die größten Unterschiede zwischen den beiden Fassungen. Während die Kurzfassung für ein junges Publikum voll und ganz auf die unkomplizierte und geradezu selbstverständliche Freundschaft zwischen den Kindern fokussiert und diesen Rahmen nie verlässt, zeigt die Langfassung deutlich mehr von der abstrakten Bedrohungslage, die Aatos und mit ihm die Kamera wiederholt über einen Winkelspiegel verfolgen, bringt die Eltern der beiden Jungen viel stärker ins Bild und endet mit dem Abschied der Freunde, da Aatos nach den Sommerferien mit seiner Familie nach Finnland zurückkehrt.
Mit diesen Unterschieden lässt sich die Frage leichter beantworten, ob die Kurzfassung ihre gleiche Berechtigung hat, obwohl sie wichtige Informationen und Produktionshintergründe der Langfassung ausblendet und für ein erwachsenes Publikum sogar inszeniert wirken könnte. Gerade in Bezug auf die Vermittlung von unbekannten Welten und die Auseinandersetzung mit Konflikten und Problemen des Alltags ist es für ein junges Publikum besonders wichtig, sich mit den Protagonist*innen identifizieren zu können, positive Beispiele an die Hand zu bekommen und filmisch zu erfahren, wie andere Kinder mit diesen Konflikten und Herausforderungen umgehen. Genau das gelingt der Kurzfassung, die mit 25 Minuten auch zeitlich nicht überfordert.
Holger Twele
Altersempfehlung für die Langfassung: ab 12 Jahren; für die Kurzfassung ab 9 Jahren
Gods of Molenbeek - Finnland, Deutschland 2019, Regie: Reetta Huhtanen, Kinostart: 21.11.2019, FSK: ab 0, Empfehlung: ab 12 Jahren, Laufzeit: 73 Min. (Langfassung)/25 Min. (Kurzfassung) Buch: Reetta Huhtanen. Kamera: Hannu-Pekka Vitikainen. Musik: Tuomas Nikkinen, Cassis B. Staudt. Schnitt: Jamin Benazzouz. Produktion: Hannu-Pekka Vitikainen. Verleih: Real Fiction. Mitwirkende: Aatos, Amine, Flo u. a.
Altersempfehlung 10-13 Jahre
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